Die Frage, was das Menschliche sei, hat die Geister immer wieder beschäftigt. Originelle und tiefgründige Überlegungen dazu finden sich in den anthropologischen Studien des Philosophen Helmuth Plessner (1892-1985).
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Das interessanteste Tier für den Menschen ist der Mensch. Diese Vermutung, von Johann Gottlieb Fichte im Jahre 1803 zu Papier gebracht, inspirierte nicht nur den Forschungsdrang der Anthropologie, sondern hat auch Philosophie und Literatur auf merkwürdig unergründliche Weise begleitet. Die Frage nach dem, was der Mensch ist und was er sein kann, ist von zeitloser Brisanz; sie lässt sich immer wieder neu stellen, aber nur schwerlich beantworten, und gleicht somit einem wiederkehrenden Motivationsspiel, das zugleich fördernd und unterminierend wirkt. Der Mensch, rätselhaft schon immer, wird sich selber nicht los; als Subjekt hat er eine Lawine des Wissens losgetreten, in der er, Objekt der Objekte, unterzugehen droht.
Denken und Wissen
Das Interesse des Menschen am Menschen, von Fichte noch wie ein leidenschaftsloser Aufruf zur theoretischen Neugier vorgetragen, geriet nach dem Abdanken des deutschen Idealismus in eine Leistungsexplosion der empirischen Wissenschaften, die das Anspruchsdenken der traditionellen Philosophie insgesamt infrage stellen musste. Was der Mensch war und ist, ließ sich nun aufgrund von Ergebnissen sagen, die von den Einzelwissenschaften vorgelegt wurden. Die Philosophie hatte dem Rechnung zu tragen; ihr blieb nur der Rückzug in die Innerlichkeit oder der Anschluss an den jeweils herrschenden Erkenntnis- und Methodenstand.
Mit der in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner entwickelten, heute bereits als "klassisch" bezeichneten, philosophischen Anthropologie gelang der Philosophie ein solcher Anschluss. Max Scheler trat dabei als Schriftführer auf, während Gehlen einige Formulierungen gelangen, die über den Tag hinaus einflussreich waren.
Von Helmuth Plessner hingegen hörte man wenig: Er arbeitete eher im Stillen und trug in ereignisreichen Jahrzehnten ein Werk zusammen, das ungeachtet seiner Zeitgebundenheit erstaunlich modern anmutet.
Helmuth Plessner kam am 4. September 1892 in Wiesbaden als Sohn eines Arztes zur Welt. Der Vater leitete ein Privatsanatorium für Innere und Nervenkrankheiten, in dem die Patienten in der Regel reich waren, aber auch eingebildet - eine Kombination, die das Haus florieren ließ und für den jungen Plessner oft genug Anlass zum Staunen bot. In einer 1975 erschienenen, mit feiner Ironie konzipierten philosophischen Selbstdarstellung notierte er dazu: "Die Atmosphäre eines Privatsanatoriums ist heute schwer vorstellbar. Jedenfalls saß ich schon als kleiner Kerl mit am Tisch, dem mein Vater präsidierte. Kein Wunder, dass ich, bei Freunden eingeladen, fragte: Wo sind denn Eure Patienten?."
Genaue Betrachtung
Menschen, so wurde dem Knaben Plessner vorgeführt, waren komisch und interessant zugleich; was sie trieben, bedurfte der genaueren Betrachtung. Mit siebzehn Jahren machte er Abitur; sein Zeugnis war von beeindruckender Durchschnittlichkeit. Lobende Erwähnung fanden nur sein Betragen und seine Sangeskünste. Entgegen den Ratschlägen des Vaters entschloss sich Plessner, ein Studium der Medizin und Biologie in Freiburg zu beginnen. An den Universitäten, denen politisch schwere Zeiten drohten, durfte man Wissenschaft damals noch um der Wissenschaft willen betreiben: "Wer 1910 in der glücklichen Lage war, sich sein Studium und seine Universität wählen zu können, versteht den Ausspruch, dass die Zukunft heute nicht mehr das ist, was sie einmal war. Damals gab es keinen Numerus clausus, keine Massenfächer, keinen ideologischen Fanatismus. Der Student akzeptierte die Universität, wie sie war. Sie gewährte einem jungen Mann, der die Schule gerade hinter sich hatte, ein ungekanntes Maß an Freiheit."
Plessners eigentliches Interesse galt inzwischen mehr der Philosophie. 1916 promovierte er an der Universität Erlangen; vier Jahre später habilitierte er sich in Köln mit "Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft", einer eilig konzipierten Schrift, die im Dunstkreis der Kantischen Philosophie verblieb, der er besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Die Ablösung von Kant vollzog sich nur zögerlich; sie wurde eingeleitet mit dem Buch "Die Einheit der Sinne", das 1923 erschien und wesentliche Gedanken seiner philosophischen Anthropologie vorbereitete.
Natur und Geist
Der Mensch als Lebewesen, stellte Plessner fest, bleibt im Bannkreis seiner tierischen Herkunft; zugleich befähigen ihn seine geistigen Anlagen, sich über sein kreatürliches Erbe hinwegzusetzen und den freien Entwurf zu wagen - mit dem Risiko des Scheiterns und, dies vor allem, mit den Möglichkeiten, sein Scheitern zu begreifen. 1928 - im selben Jahr, in dem Heideggers "Sein und Zeit" und Schelers "Die Stellung des Menschen im Kosmos" erschienen - kam, nahezu unbeachtet von der Öffentlichkeit, Plessners Hauptwerk "Die Stufen des Organischen und der Mensch" heraus. Im Eingangskapitel des Buches heißt es: "Wenn also das Geistige nicht nach bekanntem Rezept zum einfachen Überbau einer bestimmten Art tierischen Daseins werden und damit nur einer biologischen Form des alten Naturalismus zum Siege verholfen sein sollte, galt es, aus neuer Perspektive die Verbundenheit von Natur und Geist und die Stellung des Menschen zu bestimmen . . ."
Philosophische Anthropologie erhält von Plessner die Rolle einer Hilfswissenschaft im Chefrang zugesprochen. Der philosophische Anthropologe muss ein Interpretationskünstler im Garten des Menschlichen sein; er hat Einzelheiten zu wägen und in den größeren Zusammenhang zu stellen. Dabei geht es vor allem um die "Exzentrizität der menschlichen Position". Sie besagt, dass die Körperlichkeit des Menschen eine doppelte ist: Der Mensch ist Leib, und er hat einen Leib. Die Fähigkeit zur Distanzierung, die er besitzt, erlaubt es ihm, dass er seinen Körper beherrscht und ihn zugleich als Gegenstand wahrnimmt, den er von außen sieht. Der Mensch, so ein gern gebrauchtes Bild Plessners, steckt in seinem Körper "wie in einem Futteral". Mit seinem Selbstbewusstsein, der Entdeckung des Ich, greift der Mensch über sich selbst hinaus; er emanzipiert sich von seinem leiblichen Zentrum und wird zum "Exzentriker": "In dieser vom Menschen stets neu zu vollziehenden Einheit des Verhältnisses zu seiner . . . physischen Existenz entdeckt sich ihm sein Körper als Mittel, d.h. als etwas, das er gebrauchen kann: zum Gehen, Tragen, Sitzen, Liegen, Greifen, Stoßen usw. "
Die Körperbeherrschung des Menschen, obgleich höchst unterschiedlich ausgeprägt, wird von den meisten als Selbstverständlichkeit empfunden. Man bewegt sich; man agiert und reagiert, und erst bei schmerzhafteren Kollisionen wird dieses Tätigkeitsprinzip, zumindest vorübergehend, in Frage gestellt.
Auge und Hand
Dabei ist die Körperbeherrschung, wie sie der Mensch für sich entwickelt hat, durchaus etwas Außergewöhnliches. Von der Evolution her betrachtet, ist sie ein geschichtlicher Vorgang, zu dem es mehr als gesicherte Vermutungen gibt. Eines Tages richtete der Mensch sich auf; auch dies eine doppelbödige Aktion, die als körperliche Handlung begann und in ihren geistig-gesellschaftlichen Konsequenzen, wie wir wissen, noch immer nicht abgeschlossen ist. Plessner spricht in diesem Zusammenhang von der "Freilegung des Auge-Hand-Feldes", das zu einer Art Operationszentrale des umtriebigen Menschen wird. Aufgerichtet, versehen nunmehr mit erweitertem Überblick, kontrolliert er sein Tun; mit den Augen wacht er über die Verrichtungen, die er als Körper vollbringt.
Dem entwicklungsgeschichtlichen Reifeprozess entspricht eine individuelle Vorbereitungszeit, in der der Mensch lernt, was seine speziellen Fähigkeiten bedeuten und wie sie zu handhaben sind.
Zustimmend verweist Plessner in diesem Zusammenhang auf die Forschungen des Biologen Adolf Portmann: "Trotz sehr langer Tragezeit kommt der Mensch ein Jahr zu früh zur Welt, zwar lebensfähig, aber, was seine Fähigkeiten aufrecht zu gehen und zu sprechen betrifft, noch unfertig . . . Die Tatsache der natürlichen Frühgeburt ist ein Kunstgriff der Natur, ein solches der Tierheit entwachsenes Lebewesen zur Welt zu bringen und ihm die dünne Chance von Lebens- und Überlebensfähigkeit zu verschaffen."
Deutsche Probleme
Helmuth Plessner lehrte bis zum Jahre 1931 an der Universität Köln. Die Zeiten waren andere geworden; politische Radikalisierung griff um sich, in deren Gefolge nicht nur Maulhelden und Schlägertrupps das Sagen hatten, sondern auch eine Schar von Frühangepassten, die den vorauseilenden Gehorsam praktizierten, mit dessen Hilfe Karrieren verlängert und Konkurrenten beiseite geschoben werden konnten.
Im Jahre 1935 erschien Plessners Buch "Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche", das fast gänzlich unbeachtet blieb, im Jahre 1959 allerdings eine kuriose Wiedererweckung feierte, als es unter dem deutlich griffigeren Titel "Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit" erneut vorgelegt wurde und innerhalb kurzer Zeit fünf Auflagen erlebte. Der späte Erfolg des Buches hatte nicht nur mit den veränderten Zeitumständen zu tun, die Ende der fünfziger Jahre einer funktionierenden politischen Streitkultur durchaus wohlgesonnen waren, sondern resultierte auch aus der Evidenz einer These, die Plessner in bewusster Anlehnung an frühere Interpreten des ressentimentbeladenen deutschen Nationalstaates entwickelt hatte.
Nach einem Zwischenspiel in Istanbul wechselte Plessner 1934 an die Universität Groningen; das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte er in Amsterdam. Bis 1952 lehrte er in den Niederlanden; dann erreichte ihn ein Ruf an die Universität Göttingen, den er, nach einigem Zögern, annahm.
In Göttingen fand Plessner Zeit, seine Anthropologie mit prägnanten Einzelstudien abzurunden und thematisch zu komplettieren. Besonders seine Untersuchungen zu Weinen, Lachen und Lächeln waren es, die Aufmerksamkeit erregten. Plessner gelang es, diesen Grundphänomenen menschlichen Ausdrucksvermögens neue Bedeutung abzugewinnen: "Körperliche Vorgänge emanzipieren sich. Der Mensch wird von ihnen geschüttelt, gestoßen, außer Atem gebracht. Er hat das Verhältnis zu seiner physischen Existenz verloren, sie entzieht sich ihm und macht gewissermaßen mit ihm, was sie will."
Lachen reißt die Dämme der Beherrschung nieder; im Weinen hingegen findet eine eher ansatzlose Selbstaufgabe statt: "Auf dem Hintergrunde solcher Ansprüche, wie sie der Mensch erhebt; auf Individualität, also Einzigkeit, Einmaligkeit . . ., auf Würde . . ., Einklang zwischen Leib, Seele, Geist - kann so gut wie alles, was er ist, hat und tut, komisch wirken . . . Nachahmung von Gesicht, Tonfall, Bewegungen - lächerlich; Verwechslung - lächerlich; Verkleidung - lächerlich. Unproportionierte Formen, ungeschicktes Benehmen, Übertriebenheiten jeder Art, Monomanien, Zerstreutheiten. . . : unerschöpfliche Quellen der Komik (. . .)." "Das Ergreifende, Rührende, Geliebte, Heilige und Hohe" hingegen erscheint uns "als das absolut Eindeutige und zugleich Entrückte, als das reine Ende für unser auf Verhältnismäßigkeiten, Relationen und Relativitäten, auf Druck und Gegendruck abgestimmtes Verhalten." "Wenn uns die Tränen kommen", sprechen wir "zu Recht von Weich- und Schwachwerden. In dem Durchbrochensein der normalen Verhältnismäßigkeit unseres Lebens in und mit der Welt sind wir an eine Grenze alles Verhaltens geraten." Im Vergleich dazu ist das Lächeln eine eher moderate Ausdrucksform. Ein lächelnder Mensch scheint nur verhalten auf der Klaviatur der Expressionen zu spielen.
Plessners Menschenbild sparte die großen Illusionen aus; seine Exzentrizität des Menschen blieb ohne Glanz und Glimmer, weshalb gerade die Philosophie, die nach ihm das Sagen bekam, von seiner Anthropologie zunächst nicht mehr viel wissen wollte. Plessner hat dies ungerührt, wenn auch vermutlich mit stillem Groll zur Kenntnis genommen. Er beharrte darauf, dass Philosophie und Naturwissenschaften sich reflexiv durchdringen müssen, wenn sie uns weiterhelfen sollen: "Die klassische Charakterisierung des Menschen als eines Lebewesens, das der Rede mächtig ist, . . . kann in dem Übergangsfeld zwischen Tier und Mensch nur mit einem Male als eine neuartige Möglichkeit aufgetreten sein. Wohlgemerkt als eine Möglichkeit, die auf die verschiedensten Weisen sprachliche Gestalt annehmen musste. Dem Naturforscher aber darf es nicht verwehrt sein, sich darüber Gedanken zu machen, wobei ihm freilich die Philosophie zu Hilfe kommen muss."
Geschöpf ohne Mitte
Helmuth Plessner starb er am 12. Juni 1985 in Göttingen. Seine philosophische Anthropologie, die den Menschen als exzentrisches Geschöpf ohne Mitte bestimmt, das sich zu einer denkwürdigen Freiheit vermittelt sieht, musste fast zwangsläufig zwischen alle Lehrstühle geraten.
Heute findet sie wieder Interesse: Die Freiheit des Menschen ist an ihre Grenzen gestoßen; ein Umdenken wird gefordert, das den menschlichen Faktor nicht eliminiert, sondern moralisch und ethisch in die Gewissensprobe nimmt. Plessners philosophische Anthropologie war altmodisch genug, an der Würde des Menschen, diesem ramponierten und dennoch unverzichtbaren Desiderat unserer Selbstbestimmung, festzuhalten; an solchem Eigensinn, der einiges für sich hat, lässt sich die Modernität eines Menschenbildes ablesen, das von Überhebung und Kleinmütigkeit gleich weit entfernt ist.
Otto A. Böhmer, geboren 1949, lebt als Schriftsteller in der Nähe von Frankfurt am Main. Zuletzt sind von ihm erschienen: "Reif für die Ewigkeit. Sören Kierkegaard und die Kunst der Selbstfindung" (Diederichs, 2013) und "Nächster Halt Himmelreich" (Klöpfer&Meyer, 2013).