Für rund 400 österreichische Strafgefangene wird Weihnachten heuer ein besonderes Freudenfest sein. Nach einer mehr oder weniger langen Phase hochgradiger Fremdbestimmtheit im Gefängnis wird ihnen der Bundespräsident Kraft seines in der Bundesverfassung festgeschriebenen Begnadigungsrechtes die Freiheit schenken. Die so genannte "Weihnachtsamnestie", wie die jahreszeitliche Gnadenaktion - fälschlicherweise - hierzulande immer wieder bezeichnet wird, ist eine österreichische Erfindung mit bereits sehr langer Tradition.
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Der Ursprung der Weihnachtsbegnadigung geht zurück auf die Zeit Kaiserin Maria Theresias. Im Zuge einer Strafrechtsänderung war man damals dazu übergegangen, anstelle von Leibesstrafen Freiheitsstrafen zu verhängen, weshalb eine viel größere Anzahl von Strafgefangenen zu verzeichnen war als ehedem. Der Grund, weshalb man auf die Idee kam, Häftlinge zur Weihnachtszeit nach Hause zu schicken, war ein ganz und gar pragmatischer: In nicht wenigen Fällen gerieten nämlich die Familien der Inhaftierten im Winter in höchste Not, und vor allem die Holzbeschaffung war ohne die Unterstützung des Haushaltsvorstandes nur schwer zu bewerkstelligen. Um Abhilfe zu schaffen, wurden deshalb Rechtsbrecher gnadenweise aus der Haft entlassen. Gleichzeitig konnte die Monarchin solcherart dem Volk ihre Großzügigkeit zeigen, was als eine der vornehmsten fürstlichen Tugenden galt.
Nach dem Ende des ersten Weltkrieges ging das Begnadigungsrecht vom Kaiser auf den Bundespräsidenten über. Während die Weihnachtsbegnadigung zwischen 1938 und 1945 außer Kraft gesetzt war, knüpfte man danach wieder an die alte Tradition an.
Vorbereitet werden die Gnadenakten aufgrund genauer Kriterien von den einzelnen Justizanstalten im Zusammenwirken mit dem Bundesministerium für Justiz, ehe sie zur Erledigung an die Präsidentschaftskanzlei weitergeleitet werden. Ausschließungsgründe sind vor allem Suchtgiftdelikte, Verurteilungen nach dem Fremdengesetz (Schlepper), Sexualdelikte sowie Straftatbestände, die mit dem Quälen von Kindern in Zusammenhang stehen.
Der Bundespräsident und seine Beamten unterziehen die eingereichten Begnadigungsakten alljährlich einer sehr sorgfältigen Überprüfung. In der Regel werden 90 Prozent der in Aussicht genommenen Kandidaten tatsächlich begnadigt.
Hoffnungen im "Landl"
Die "Wiener Zeitung" hat im größten Gefangenenhaus Österreichs, der Justizanstalt Wien-Josefstadt ("Landl"), einige Gefangene besucht, denen heuer eine Weihnachtsbegnadigung in Aussicht gestellt wurde. Besonders erfreut zeigt sich die 61-jährige Helga S., vormalige Nachtklubbesitzerin in Wien, über die Tatsache, dass sie Weihnachten voraussichtlich zu Hause bei ihren Kindern und Enkelkindern verbringen darf. Seit kurzem ist sie sogar Urgroßmutter, weshalb sie das Weihnachtsfest in Freiheit doppelt genießen werde. Die Abteilung, auf der sie untergebracht ist, beherbergt auch etliche Mütter mit Kleinkindern. Aufgrund ihres Alters sowie ihrer sozialen Umsichtigkeit hat man ihr anstaltsintern den ehrenvollen Beinamen "Oma" verliehen. Um für den Fall einer Ablehnung dennoch nicht auf Familienfreuden verzichten zu müssen, habe sie sicherheitshalber einen Antrag auf "Ausgang" während der Weihnachtsfeiertage eingebracht.
Wehmütig blickt Sladjana B. dem Weihnachtsfest entgegen, zumal das Sorgerecht ihrer 10-jährigen Tochter derzeit allein bei ihrem Ex-Mann liegt, der sich während der Haft von ihr scheiden ließ und der gemeinsamen Tochter auch keine Besuche in der Justizanstalt gestattet. Obwohl sie ihr Kind zu Weihnachten wahrscheinlich noch nicht in die Arme schließen kann, werde ihre Betrübnis im Falle der Begnadigung in Freiheit etwas gemildert sein.
Der noch jugendlich wirkende Andreas H. würde zwar ohnedies am 22. Jänner 2003 entlassen werden, jedoch würde ihn die vorzeitige Entlassung überglücklich machen, weil er ein Kind hat und ihm das Familienfest sehr viel bedeutet. Ramiz H., ein junger Bosnier, schläft derzeit ziemlich unruhig, weil er der Entscheidung des Bundespräsidenten entgegen zittert. Obwohl er es als Hausarbeiter recht gut getroffen hat und mit den Mitgefangenen wie auch mit den Beamten bestens auskommt, würde er sich riesig freuen entlassen zu werden, denn einerseits hat er noch einen Strafrest von einem Jahr offen und andererseits liegen die Nerven seiner Mutter blank, seit er in Haft ist.
"Anreiben" verhindern
Den Häftlingen, die zurückbleiben müssen, versucht die Anstaltsleitung ihr Dasein zu Weihnachten erträglicher zu machen. Ein Festtagsessen sowie die Möglichkeit ausgiebigere Einkäufe zu tätigen sind im Bereich des "Landls" spezielle Weihnachtsvergünstigungen. Von "Vikerl", einem Langzeitgefangenen aus dem Hochsicherheitstrakt, erfahren wir, dass manche "Haflinger" (= Häftlinge) gerade in der sentimentalen Weihnachtszeit dazu neigen sich "eine anzureiben" (= die Pulsadern aufzuschneiden), weshalb die "Kas" (= Justizwachebeamte; alt-österreichisch: "kaiserliche Aufschließer") in nächster Zeit erhöhte Wachsamkeit walten lassen müssen. Darüber hinaus wird vermehrt Betreuung durch verschiedene Sonderdienste (Psychologen, Seelsorger, Sozialarbeiter etc.) angeboten.