Einsichten in die Welt von Verschwörungstheorien und Polonium-210.
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Ramallah. "Er hat gelacht, doch seine Haut am Kinn war durchsichtig", beschreibt Bassam Abu Sharif sein letztes Treffen mit Yasser Arafat in Ramallah, am Tag, bevor dieser aus dem Präsidentenpalast in ein Pariser Krankenhaus evakuiert wurde. Zwei Wochen später, am 11. November 2004, ist Arafat in Paris mit 75 Jahren gestorben. Abu Sharif war einer seiner engsten Berater. Er war monatelang bei ihm, als israelische Truppen das Regierungsgebäude belagerten. An der Todesursache habe er keine Zweifel: "Israel kontrollierte alles, was rein und raus kam. Sie müssen ihn vergiftet haben."
Für viele Palästinenser in Ramallah war Abu Sharifs Theorie diese Woche der logische Schluss, nachdem das Westschweizer Institut für Rechtsmedizin mit dem Fund hoher Vorkommen von Polonium-210 in den leiblichen Überresten Arafats international für Furore sorgte. Eine Vergiftung als Todesursache sei "moderat" wahrscheinlich, erklärten die Forscher.
Israel weist hingegen jegliche Verantwortung zurück. "Alles ist sehr, sehr unklar", kommentierte der israelische Außenamtssprecher Yigal Palmor. "Die Theorie vom Giftmord weise mehr Löcher auf "als ein Schweizer Käse."
Ein palästinensischer Polizist zeigte sich Donnerstagabend in Ramallah dennoch überzeugt: "Israel hat das Gift in Arafats essen gemischt." Auf der anderen Straßenseite erklärte eine palästinensische Frau Namens Dalia kurz darauf, dass sie nun vor allem eines sei: "erleichtert". Denn seit Jahren gehe das Gerede um die Todesursache hin und her, von einer Untersuchung zur anderen. Nun würden endlich Fakten auf dem Tisch liegen. "Arafat war von seiner Nation geliebt. Doch niemand wusste, warum er starb."
"Nur Gott weiß es"
"Warum ist diese Diskussion denn wichtig?", meinte hingegen der 72-jährige Palästinenser Abu Faris aus Ramallah. "Die Probleme der Palästinenser werden wir so nicht lösen." Einmal pro Woche schleicht er sich ohne Genehmigung heimlich nach Israel, um dort mit Hilfsarbeiten Geld zu verdienen. Seine Hände sind rau. Die freundlichen Augen umrahmt von faltiger, gebräunter Haut. "Hinter jedem Todesfall steckt ein Grund", zitiert Abu Faris eine Stelle aus dem Koran. "Doch wer Arafat getötet hat, das weiß nur Gott."
Das wollen die beiden britischen Autoren Matt Rees und Matthew Kalman nicht so ganz glauben. Ein halbes Jahr lang sind sie der "Verschwörung in die inneren Zirkel" Arafats gefolgt. Für ihr englischsprachiges Buch "Mord an Arafat" trafen sie Vertraute und Kritiker des Palästinenserführers. "Wir haben rausgefunden, dass alle Palästinenser glauben, Israel steckt hinter dem Mord", erklärt Matthew Kalman. "Doch all jene, die den Fall genau untersucht haben, meinen, Arafat sei von Palästinensern vergiftet worden." Warum sonst sei die Palästinensische Autonomiebehörde so zurückhaltend in ihren Aufklärungsversuchen gewesen?
Immerhin wurde der Leichnam erst 2012 exhumiert, und das nur nach öffentlichem Druck. Die erste Untersuchung wurde bereits 2005 von der Palästinensischen Autonomiebehörde eingestellt. Ein Mitglied der damaligen Kommission, Fahmi Shabane, macht den heutigen Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas für Arafats Tod verantwortlich. "Israel wollte Arafat loswerden. Doch sie waren nicht allein", sagt der Anwalt. Den heutigen Leiter der Untersuchungskommission, Tawfiq Tirawi, beschuldigt er der Vertuschung. Dieser meinte wiederum bei der Pressekonferenz in Ramallah: "Arafats Tod ist die Folge einer giftigen Substanz. Und Israel ist die Hauptverdächtige." Die palästinensische Nation habe das Recht auf die Wahrheit. Doch diese liegt weiterhin verborgen. Je tiefer man blickt, desto komplexer scheinen die Zusammenhänge.
Für den 72-jährigen Abu Faris ist der Rummel letztlich nicht mehr als eine Farce, die von den wahren Problemen in Palästina ablenkt. "Tot ist tot", sagt er.