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Das Asylparadox an Österreichs Grenzen

Von Judith Kohlenberger

Gastkommentare

Schutzsuchende müssen Recht brechen, um zu ihrem Recht zu gelangen.


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In den vergangenen Monaten ist die Zahl der Asylanträge in Österreich gestiegen, bedingt durch das Zurückpendeln auf ein Prä-Corona-Niveau sowie die sich verschärfende Sicherheitslage in Ländern des Mittleren Ostens und globalen Südens. Ein nicht unerheblicher Anteil ist der Sekundärmigration aus Jordanien, der Türkei, dem Westbalkan und Griechenland zuzurechnen. Aber auch Österreich ist ein Transitland für Schutzsuchende, ziehen doch viele in andere EU-Länder, etwa Deutschland und Frankreich, weiter: Von den 31.000 Menschen, die heuer in Österreich einen Asylantrag gestellt haben, befinden sich derzeit nur etwas mehr als die Hälfte in der Grundversorgung.

Dennoch werden Rufe nach verstärkten Grenzkontrollen lauter. Dem "zunehmenden Migrationsdruck", dem die EU-Kommission nichts entgegenzusetzen hätte, möchte man hierzulande mit nationaler Machtdemonstration begegnen. Schwerpunktaktionen an der burgenländischen Grenze etwa sollen der "illegalen Migration" die Stirn bieten und Schleppern "das Handwerk legen". So weit, so hinlänglich bekannt.

Bei näherer Betrachtung muten solche Absichtserklärung absurd an. Nun gibt es tatsächlich wesentlich mehr "Aufgriffe" von Personen, die ohne Aufenthaltstitel nach Österreich einreisen - müssen. Denn so sieht es das territoriale Asylrecht, das mangels legaler Fluchtwege zur Anwendung kommt, vor: Um überhaupt erst in die Lage zu kommen, ihr Recht auf Asylantragstellung auf einem Territorium in Anspruch nehmen zu können, müssen Schutzsuchende zuerst einmal "illegal", also ohne Aufenthaltsstatus oder Einreisegenehmigung, die Grenze passieren. Anders ausgedrückt: Sie müssen Recht brechen, um zu ihrem Recht zu gelangen.

Dieses in der Forschung als Asylparadox bekannte Phänomen führt in der Praxis zur widersinnigen Situation, dass durch mehr Kontrollen auch die Zahl der "illegalen" Aufgriffe steigt. Denn die aufgreifende Polizei kann nichts weiter tun, als Asylanträge aufzunehmen beziehungsweise die Antragssteller in die nächste Erstaufnahmestelle zu schicken.

Mehr Grenzschutz führt nur bedingt zu weniger Ankünften

Die groß angekündigte "Grenzsicherung" besteht im Kern darin, Schutzsuchenden freies Geleit in die nächstgelegene Asylunterkunft zu bieten. So gebietet es das Völkerrecht, und das wissen glücklicherweise auch die österreichischen Grenzwachebeamten (andernfalls begingen sie rechtswidrige Push-Backs).

All das hindert aber zuständige Minister wie Oppositionspolitiker nicht, mit steigenden Ankunftszahlen Stimmung zu machen und postwendend für "Law and Order" an

Judith Kohlenberger ist Autorin und Migrationsforscherin an der WU Wien. Ihr neues Buch "Das Fluchtparadox" erscheint am 22. August bei Kremayr & Scheriau. 
© K&S / Elodie Grethen

Österreichs vermeintlich "überrannten" Grenzübergängen zu plädieren. Dass der Anstieg der Zahlen auch auf diese Politik vermehrter Kontrollen und Grenzpatrouillen zurückzuführen ist, wird geflissentlich verschwiegen. Selten klaffen Rhetorik und Realität so auseinander wie beim Thema Asyl.

Dabei ist der paradoxe Effekt von Grenzsicherung vielfach belegt: Mehr und stärkerer Grenzschutz führt nur bedingt zu einem Rückgang von Ankünften, treten doch Substitutionseffekte wie etwa Umleitung auf andere Routen oder Einreisekategorien auf. Manchmal tritt gar das exakte Gegenteil dessen ein, was die Migrationssteuerung beabsichtigt: Durch vermehrte Kontrolle kommt es zu einem Anstieg der Wohnbevölkerung ohne gültigen Aufenthaltsstatus, wie im Fall der USA zu beobachten.

Ausweichen auf gefährlichere Wege und weitere Distanzen

Aber auch die politische Losung "Mehr Kontrolle = weniger Schlepperei und weniger Tote" ist in dieser Form nicht haltbar. Vielfach führt mehr Kontrolle indirekt zu mehr Toten, weil Migranten dann nämlich auf gefährlichere Wege und weitere Distanzen ausweichen, wodurch die Wahrscheinlichkeit, dass sie dafür die (kostspielige) Hilfe von Schleppern in Anspruch nehmen, ungleich höher ist. Der populäre Anspruch zahlreicher europäischer Regierungschefs, durch eine Aufstockung der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die vermeintliche Schließung von Routen oder Deals mit Drittstaaten "das Schlepperwesen zu stoppen", erweist sich nun, sieben Jahre nach 2015, als Großteils wirkungslos.

Mit dem Rezept "Abschottung, Abschreckung, Auslagerung" konnte man offenkundig weder Ankunftszahlen nachhaltig senken noch Leid und Elend an Europas Grenzen beenden. Höchstens wurde damit die Migrationsfrage zeitlich und räumlich verlagert, langfristig aber immer größer und drängender. Verantwortliche wären spätesten jetzt gut beraten, die in der Forschung hinreichend belegten Grenzen der Migrationssteuerung bei der Ausgestaltung ihrer Asylpolitik nicht mehr vollständig zu ignorieren.

Judith Kohlenberger: Das Fluchtparadox
Kremayr & Scheriau; 240 Seiten; 24 Euro
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