Warum Mexiko als einziger Staat gegen die völkerrechtswidrigen Vorgänge von 11. bis 13. März 1938 protestierte.
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"Das größte Ereignis nach dem Weltkrieg." "If Austria is to survive, she will undoubtedly have to rely largely, perhaps entirely, upon herself." Diese Zitate - aus einem Bericht an das Moskauer Politbüro vom 14. März 1938, das zweite in einem Memorandum des Londoner Foreign Office aus 1936 - finden sich in einem neuen Sammelband über den "Anschluss im internationalen Kontext". Die Ereignisse in Wien und Berlin zwischen dem 11. und dem 13. März 1938 sind hinlänglich erforscht und publiziert: Die erzwungene Umbildung der Bundesregierung am späten Abend des 11. März, der Einmarsch der Wehrmacht am 12., gegen den im Bundesheer zwar Pläne für militärischen Widerstand ausgearbeitet worden waren - doch in Kenntnis der NS-Sympathisanten auch im Heer hätte dieser nur bei Hilfe des Auslandes Erfolgschancen gehabt. Am 13. März beschloss die neue Regierung in Wien das Gesetz über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich. Es trat sofort in Kraft, das inhaltsgleiche deutsche folgte unmittelbar. Am 15. März machte Hitler am Heldenplatz seine "Vollzugsmeldung".
Was bisher fehlte, waren Antworten auf die Frage, ob das Ausland all das geahnt hatte. Und, warum beim Völkerbund, dem 1920 geschaffenen Organ einer kollektiven Sicherheit, nur Mexiko protestierte, obwohl die deutschen Handlungen eindeutig völkerrechtswidrig waren. Diese Lücke schließt dieser Band in 24 Beiträgen ausgewiesener Historiker und Diplomaten.
"Failed State"
Das seit 1919 kleine Österreich war diplomatisch quantité négligeable, und Europas Mächte zweifelten bald an seiner Konsistenz und Innenpolitik: Es wurde angenommen, dass eigentlich nur die Regierungen (Dollfuß und Schuschnigg) wirklich für die Unabhängigkeit agierten, wogegen das Volk mehrheitlich zu Deutschland wolle. Diplomatische Quellen nennen 25 Prozent aktive NS-Unterstützer und etwa gleichviele Sympathisanten; Meinungsumfragen gab es ja noch nicht. Ein Anschluss entspräche eigentlich dem 1919 postulierten, aber nicht realisierten Selbstbestimmungsrecht. Sei der Zusammenschluss daher nicht eine innerdeutsche Frage? Die Wirtschaft habe ihn bereits de facto herbeigeführt; jedenfalls müsse eine Restitution der Habsburger verhindert werden. Zugute zu halten ist den Außenministerien immerhin, dass keines einen Krieg riskieren wollte.
Länderspezifisch ist zwischen Staaten zu unterscheiden, die selbst rechtsgerichtete Regierungen hatten oder sich von Hitlerdeutschland etwas erhofften, wie Ungarn, Jugoslawien und Italien, und jenen, die sich zurückhielten, um Deutschland "nicht zu reizen": Polen, Schweiz, Vatikan, Tschechoslowakei. Letztere versuchte, wegen der Verschlechterung ihrer geopolitischen Lage von England und Frankreich erhaltene Beistandszusagen zu erneuern. Vergeblich.
Auf Italien glaubte sich die Wiener Regierung verlassen zu können: Staatsbesuche in Rom, Florenz und Riccione, Absprachen und Versicherungen Mussolinis, Ende Juli 1934 sogar ein militärischer Schein-Aufmarsch am Brenner. Doch bei der ersten Unterredung Mussolinis mit Hitler, in der Villa Pisani in Stra am 14. Juni 1934, dürfte Mussolini den Stab über Österreich gebrochen haben: Er brauchte Hitlers Unterstützung für den Abessinienkrieg und Ruhr-Stahl. Wien blieb ahnungslos. Am 13. März 1938 wird Hitler von Linz aus Mussolini telegrafieren: "Mussolini, ich werde Ihnen dieses nie vergessen!" Belohnt wird dessen Stillhalten mit der "Lösung der Südtirolfrage" - der Umsiedlungspakt für Südtiroler und Ladiner, nach Nordtirol und südlich des Hochschwabs. Der Brenner soll deutsch-italienische Grenze bleiben.
Fünf Beiträge behandeln das wechselnde Verhältnis der Sowjetunion zu Österreich: Anfangs an Österreich nur als Stützpunkt für die Internationale Richtung Balkan interessiert, wird mit dem Erstarken des Austrofaschismus der Ständestaat als wenig dauerhaft beurteilt. 1934 stimmt Österreich für die Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund, doch es enthält sich 1935 bei dessen Sanktionsbeschluss gegen Italien, was Kritik bringt. Danach wird der Anschluss erwartet, er sei nur eine Frage der Zeit. Nach dem 12. März wird er in Moskau zwar als Gewaltakt angeprangert und eine internationale Konferenz gefordert, doch niemand folgt. Dann wird geschickt jede Handlung vermieden, die eine De-facto-Anerkennung der deutschen Souveränität über Österreich beinhalten würde (wie die Einrichtung eines Konsulats in Wien). Damit kann die UdSSR die These aufbauen, sie sei die einzige Macht, die die Unabhängigkeit Österreichs verteidigt habe. Im Oktober 1943 folgt die "Moskauer Deklaration" der drei Alliierten mit der Nichtigerklärung des Anschlusses und der Erklärung, Österreich zu befreien - Nachkriegsdeutschland sollte dauerhaft geschwächt werden.
London als genauer Beobachter
Wichtigste Macht der 1930-iger Jahre war das Vereinigte Königreich. Es war, und Frankreich folgte ihm meist, der "Hüter der Friedensverträge 1919" und somit auch der Unabhängigkeit Österreichs. London beobachtete genau die Vorgänge in Wien und Berlin, entwickelte Denkansätze für die Zukunft Österreichs und war am Stresa-Abkommen beteiligt, in dem 1935 mit Frankreich und Italien der unabhängige Bestand Österreichs apostrophiert wurde. Doch zu der dafür geplanten Konferenz kam es nicht. Mit dem Antritt der Regierung Chamberlain 1937 wechselte London zum "Appeasement", der Beschwichtigungspolitik - es sollte vor allem Zeit gewonnen werden.
Am Tag vor dem Anschluss wandte sich Schuschnigg um Rat an London. Die Antwort war: "His Majesty’s Government could not take the responsibility of advising the Chancellor." Am 12. März gesteht Chamberlain vor dem Unterhaus ein: "[. . .] these events cannot be regarded [. . .] with indifference or equanimity." Doch der Völkerbund wird nicht befasst. Einige Tage später erfolgt die Anerkennung, und man liest in London von der Verfolgung der Juden - die Einwanderungsquote wird aber nicht erhöht. Ähnlich war die Haltung der USA, die in der Depression eine strikte Isolationspolitik verfolgten.
Mexikos politisches Kalkül
So blieb Mexiko der einzige Staat, der einen formellen Protest bei dem für Sanktionen gegen einen anderen Staat allein zuständigen Völkerbund einbrachte. Doch auch die Vorgeschichte dieses in unserer Historie mit Genugtuung aufgenommenen Schrittes entsprang dem nationalen politischen Kalkül: Mexiko war 1938 in einem gefährlichen Streit mit den USA, da die linksrevolutionäre Regierung von General Cárdenas gerade die US-Ölindustrie in Mexiko verstaatlichte und eine Intervention befürchtete. Und es hatte eine offene Rechnung mit dem Deutschen Reich, da eine Lieferung von in Hirtenberg bestellten 20 Millionen Patronen missglückte, die für das von Mexiko im Kampf gegen Franco unterstützte Rotspanien bestimmt und bezahlt war.
Ein weiterer Grund war das Rechtsempfinden Mexikos als getreues Mitglied des Völkerbundes und die Freundschaft zwischen Präsident Cárdenas und Isidor Fabela, dem Leiter von Mexikos Delegation beim Völkerbund. Ob der Völkerrechtler Fabela, Verfasser der Protestnote, Hans Kelsen gekannt hat, wissen wir nicht, ist aber wahrscheinlich: Kelsen war von 1933 bis 1936 und dann 1937/38 Professor am Institut universitaire de hautes études internationales in Genf und wohnte auch in der damaligen Kleinstadt. Er widmete sich damals in seinen Vorträgen und Publikationen intensiv dem Völkerrecht und dem Völkerbund. Im Nachlass Fabelas finden sich die einschlägigen Publikationen Kelsens aus jenen Jahren, und auch in den Text der Protestnote könnte Kelsens Völkerrechtslehre eingeflossen sein.
Doch der auf Artikel 10 der Völkerbundsatzung gestützte Protest blieb ohne jede Wirkung; er wurde den Mitgliedern zusammen mit der Note des (1933 aus dem Völkerbund ausgetretenen) Deutschen Reiches über den "Anschluss" und den Rücktritt Österreichs aus dem Völkerbund zugestellt. Finis Austriae, finis Société des Nations.
Der fast spannend zu lesende Band ist auch ein wesentlicher Beitrag zur diplomatischen Geschichte Mitteleuropas der Zwischenkriegszeit, deren Abläufe den "Anschluss" bedingten.
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