Zwei Jahre nach dem Brexit zeichnet sich dessen enormer Schaden ab. Regierung und Opposition in London stellen sich blind.
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Unbarmherzig schafft sich die Realität in diesem Winter Platz in Großbritannien. Mit bitteren Klagen melden sich Händler, Kleinunternehmer, Farmer, Gastwirte, aber auch Wissenschaftler und Künstler zu Wort. Grenzkontrollen und Handelsschranken zur EU zwingen immer mehr britische Ex- und Importeure zum Aufgeben. Geschäfte kollabieren. Absatzmärkte verschwinden. Hotels und Kaffeehäuser finden ebenso schwer Personal wie Krankenhäuser und Pflegeheime im Land. Forschern fehlen die Mittel, und Musiker tun sich schwer, nach Europa zu kommen. Touristen müssen bald dafür zahlen, kontinentalen Boden zu betreten. Beim Sprung über den Kanal werden ihnen ab Herbst an der Grenze zur EU Fingerabdrücke abgenommen.
Und nicht einmal sieben Jahre ist es her, dass die Brexiteers den Wählern "ein goldenes Zeitalter", eine Ära "nationaler Erneuerung" versprachen. Nach dem britischen Austritt aus der EU werde man "wieder was gelten in der Welt", versicherte damals Boris Johnson, der Chef-Brexiteer. Das Nationale Gesundheitswesen werde erstarken, Schulklassen würden kleiner und die Steuern niedriger sein, gelobte Johnson beim Referendum 2016. Und als er 2019 als Premier in die Wahlen zog mit dem Schwur, den Brexit endlich "über die Bühne zu bringen", sah er massive Investitionen des internationalen Kapitals in die britische Wirtschaft im "Morgen-Sonnenschein".
Liz Truss und Rishi Sunak, die voriges Jahr kurz nacheinander auf Johnson folgten, haben hartnäckig dieselbe Sprache gesprochen. Da war aber längst sichtbar geworden, dass Johnsons "harter Brexit" seinen Landsleuten wenig Sonnenschein bringt.
"Ökonomisches Eigentor"
Mittlerweile zeigen die Umfragen, dass Brexit für sechs von zehn Briten im Rückblick "die falsche Entscheidung" war. Auch immer mehr Wähler, die 2016 für den EU-Austritt stimmten, kommen jetzt offenbar zu diesem Schluss. 57 Prozent der Briten plädieren inzwischen schon für einen Wiederaufnahme-Antrag bei den ehemaligen Partnern, während nur noch 43 Prozent draußen bleiben wollen. Bei den unter 24-Jährigen verlangen fast 80 Prozent eine Rückkehr in die EU.
Was nicht überrascht. Denn Finanzexperten, Wirtschaftsverbände und selbst neutrale Ämter nehmen längst kein Blatt mehr vor den Mund, was den Schaden betrifft, den die rabiate Abkoppelung von der EU in den letzten zwei Jahren angerichtet hat. Großbritannien ist der einzige G7-Staat, der im Vorjahr nicht zur Vor-Covid-Stärke seiner Wirtschaft zurückzukehren vermochte. Der britische Rechnungshof hat den langfristigen Einbruch der Wirtschaftskraft durch den Brexit auf vier Prozent, Jahr für Jahr, kalkuliert. Er ist ebenso zum Schluss gekommen, dass Brexit "einen beträchtlichen negativen Effekt für den britischen Handel" gehabt hat. Das Handelsvolumen soll um 15 Prozent gesunken sein.
Auch die Bank von England hält ihre Kritik nicht mehr zurück. Gouverneur Andrew Bailey erklärte, der EU-Austritt sei schuld an "einem langfristigen Niedergang der Produktivität um mehr als drei Prozent" in Großbritannien. Das renommierte Institut für Finanzstudien (IFS) glaubt, dass der Brexit "ganz eindeutig ein ökonomisches Eigentor" war. Selbst die konservative Vorsitzende des Finanzausschusses im Unterhaus, Harriett Baldwin, kann dieser Tage beim besten Willen "keine Brexit-Dividende" im Finanzbereich erkennen.
Lord Simon Wolfson, Generaldirektor der Bekleidungsfirma Next und ursprünglich ein ausgesprochener Brexit-Befürworter, lamentiert wie viele andere Geschäftskollegen über den chronischen Mangel an ausländischen Arbeitskräften. "Es ist mit Sicherheit nicht der Brexit, den ich einmal wollte", stellte er fest.
Einfluss der Hardliner
Der frühere Tory-Vorsitzende William Hague, heute Lord Hague, hat den jüngsten spektakulären Kollaps des heimischen Auto-Batterie-Unternehmens Britishvolt dem Mangel an Zugang "zu einem großen Markt" zugeschrieben und ihn als "Teil des Schadens" bezeichnet, "der uns durch unseren Austritt aus der EU entstanden ist". Noch im vergangenen Sommer hatten Mitglieder der Regierung Britishvolt als eine Brexit-Erfolgsgeschichte dargestellt.
Allerdings wagen es bisher nur sehr wenige Tory-Politiker, sich offen zu solchen Fakten und zum Stimmungsumschwung in der Bevölkerung zu äußern. Parteispitze und Regierung beschwören weiter unbeirrt "all die Möglichkeiten", die der Brexit dem Königreich ihrer Ansicht nach irgendwann eröffnen wird. Und um nur weiter den Glauben an die "nationale Erneuerung" zu nähren, haben Brexit-Hardliner jetzt dank ihres ungebrochenen Einflusses in der konservativen Fraktion einen "Scheiterhaufen der EU-Gesetze" anzuzünden begonnen, der, wenn er erst einmal voll auflodert, der Welt britische Unabhängigkeit von Europa demonstrieren soll.
Mehr als 4.000 während der EU-Mitgliedschaft übernommene Gesetze sollen nämlich nach dem Willen der Tory-Rechten heuer gesichtet und nach Belieben von der Regierung aus dem britischen Recht getilgt werden. Dabei geht es unter anderem um Umwelt- und Konsumentenschutz-Maßnahmen sowie gewerkschaftlich erkämpfte Arbeiterrechte.
Ringen um Nordirland-Regel
Nach Einschätzung von Staatsbeamten ist eine Durchforstung dieser Masse an Gesetzen in so kurzen Zeit gar nicht möglich. Aber auch moderate Tories halten die Aktion für völlig überzogen. Für das Institute of Directors, den Verband britischer Geschäftsführer, ist es eine "kostspielige Ablenkung" von echten Problemen. Premier Sunak jedoch hat es nicht gewagt, der Rechten, von der er sich abhängig fühlt, in den Arm zu fallen.
Zugleich findet sich der Regierungschef unter erheblichem Druck derselben Hardliner sowie militanter nordirischer Unionisten, was das sogenannte Nordirland-Protokoll - einen Teil des Brexit-Vertrags mit der EU - betrifft. Instinktiv sucht der Premier in dieser Frage einen Kompromiss mit der EU, um sich nicht noch mehr Handelsprobleme aufzuhalsen. Und bei manchem, etwa der Kontrolle gewisser Warenflüsse nach Nordirland, sind London und Brüssel in letzter Zeit einander ein gutes Stück näher gekommen.
Aber noch ist ungewiss, ob Sunak zum Beispiel die weitere Mitsprache des Europäischen Gerichtshofs in der britischen Provinz wird akzeptieren können. Die wirkliche Kraftprobe in der Tory-Partei zum Nordirland-Protokoll steht erst noch bevor.
Viel Zeit bleibt nicht, um etwas mit der EU auszuhandeln. US-Präsident Joe Biden hat einen Besuch in Großbritannien im April, zum 25. Jahrestag des Karfreitagsabkommens, von einem solchen Kompromiss abhängig gemacht.
Bemerkenswerterweise stellt sich freilich nicht nur die Regierung, sondern auch die wichtigste Oppositionspartei taub für die Klagen der Wirtschaft und die wachsenden Zweifel der Wähler. Sir Keir Starmer, Vorsitzender der Labour Party, hat die Losung ausgegeben, das B-Wort in den eigenen Reihen nicht auszusprechen. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass Labour die im nächsten Jahr fälligen Unterhaus-Wahlen nur gewinnen kann, wenn die Partei die Pro-Brexit-Wähler aus der Arbeiterschaft wieder an sich bindet, die sie 2019 an die Tories verlor. Ein erneutes Anfachen der bitteren Konfrontation um die Austrittsfrage glaubt sich Starmer nicht leisten zu können.
Leugnen und Ausweichen
Selbst die durch und durch pro-europäischen Liberaldemokraten halten sich aus wahltaktischen Gründen zurück und wollen derzeit lieber über anderes reden als über die Beziehungen zur Europäischen Union. Nur die Schottische Nationalpartei (SNP) muss sich kein Schweigen auferlegen: Die SNP-Regierung in Edinburgh will Schottland ja aus dem Vereinigten Königreich führen - und stracks zurück in die EU.
Doch halten es andere Oppositionspolitiker für widersinnig, dass auf der politischen Bühne das B-Wort praktisch tabu sein soll. Londons Labour-Bürgermeister Sadiq Khan etwa ist der Überzeugung, dass "wir nach zwei Jahren Leugnen und Ausweichen jetzt die harte Wahrheit ins Auge fassen müssen - nämlich dass Brexit nicht funktioniert".
Meinungsforscher wie Professor Rob Ford von der Universität Manchester gehen allerdings davon aus, dass die Idee einer Wiederannäherung an die EU erst reelle Chancen haben wird, wenn sich 70 bis 75 Prozent der Wähler dafür aussprechen und "beide Parteiführungen" einen entsprechenden Plan unterstützen. Erst dann werde auch die skeptisch gewordene EU die Tür wieder öffnen, vermutet Ford.