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Das Beben nach dem Beben

Von Heiner Boberski

Wissen

Gerichte verhängte Haftstrafen wegen Fehleinschätzung der Lage in L’Aquila.


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Wien. "Ich finde, dass dieses Urteil einen Tiefpunkt der Rechtsprechung darstellt und ein massives Unverständnis der Naturwissenschaft zeigt. Man kann Leute nicht für Dinge verurteilen, die nicht möglich sind, Erdbeben lassen sich nicht vorhersagen."

Wolfgang Lenhardt, Erdbeben-Experte der Wiener Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (Zamg), ist im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" empört über die Verurteilung von sieben Wissenschaftern durch ein italienisches Gericht. Die Richter verhängten über sie je sechs Jahre Haft - die Staatsanwälte hatten nur vier Jahre gefordert - wegen fahrlässiger Tötung und schlossen sie lebenslang von allen öffentlichen Ämtern aus. Die sieben Experten hatten fünf Tage vor dem verheerenden Erdbeben im April 2009, bei dem es im Raum L’Aquila 308 Todesopfer und 1600 Verletzte gab, trotz einiger Vorbeben erklärt, es bestehe kein erhöhtes Erdbebenrisiko.

Lenhardt: "Wenn Leute fragen: Findet das Beben statt oder nicht, steht man vor einer Ja-oder-Nein-Entscheidung. Wenn Sie sagen Ja, werden vielleicht Tausende evakuiert, und wenn dann nichts passiert, gibt es womöglich Klagen wegen wirtschaftlicher Verluste. Wenn Sie sagen Nein, sind Sie in 99 Prozent der Fälle auf der richtigen Seite, denn Vorbeben sagen nichts aus. Wenn ich da jedes Mal sage, jetzt kommt ein stärkeres Beben, so wird man mir das beim dritten Mal nicht mehr glauben. Und: Die meisten Beben haben gar keine Vorbeben."

Zu den Verurteilten zählen führende Wissenschafter Italiens, wie etwa der ehemalige Leiter des italienischen Instituts für Geophysik und Vulkanologie Enzo Boschi und Ex-Zivilschutzchef Franco Barberi. Ihre Empfehlungen dienten den Behörden als Entscheidungshilfe. Boschi zeigte sich wegen seiner Verurteilung erschüttert: "Ich begreife immer noch nicht, was man mir vorwirft. Dabei habe ich mein ganzes Leben der Erdbebenforschung gewidmet." Es sei unmöglich, Erdbeben vorherzusehen. Das Urteil gegen die sieben Experten ist nicht rechtskräftig, der Prozess dürfte in die nächste Instanz gehen.

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft von L’Aquila gegen die sieben Experten erfolgten nach einer Anzeige von 30 Bürgern. Der Erdbeben-Experte Giampaolo Giuliani, Forscher des nationalen Physikinstituts Gran Sasso in der Region Abruzzen, hatte wiederholt vor einem schweren Beben gewarnt, war jedoch von der Staatsanwaltschaft der Stadt Sulmona wegen unbegründeter Panikmache angezeigt worden. Das italienische Geophysik-Institut hatte seine Prognosen als völlig unrealistisch bewertet.

Forscher als "Blitzableiter"

In der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft wurde empört auf das Urteil reagiert. Die US-Wissenschafter der "Union of Concerned Scientists" bezeichneten es als "absurd und gefährlich". Sie riefen den italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano dazu auf, Position gegen das Urteil zu beziehen. Eine drohende Strafverfolgung könnte Wissenschafter daran hindern, Regierungen zu beraten und sich bei der Einschätzung von Risiken festzulegen, hieß es. "Was wäre, wenn eine Regierung Meteorologen vor Gericht zerren würde, weil sie nicht die genaue Route eines Tornados vorhergesehen haben? Wissenschafter haben das Recht mitzuteilen, was sie wissen und was sie nicht wissen, ohne Angst vor Prozessen zu haben", so die US-Wissenschafter.

Das Beben in L’Aquila hatte eine Stärke von 6,3, ähnlich wie 1976 in Friaul, als es auch viele Tote gab, das sei aber gar nicht sehr hoch, sagt Lenhardt. Er deutet an, dass in Italien auch in Erdbebenzonen zu sorglos gebaut werde und die Wissenschafter nun als "Blitzableiter" für die Versäumnisse anderer herhalten müssen. Er selbst werde bei künftigen Gutachten über Erdbebengefahren nicht zögerlicher als bisher vorgehen und sich nach wissenschaftlichen Kriterien und der Datenlage richten: "Wenn es eine Institution gibt, die den den besten Bebenkatalog der letzten 1000 Jahre hat, so ist es die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik."