Die Niveaulosigkeit macht aus dem Schmähen einen Schmäh.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es gibt einen alten Sowjetwitz: Rabinowitsch geht ins Moskauer Auswanderungsamt und sagt, er möchte auswandern. Der Beamte verlangt eine Begründung. Rabinowitsch antwortet: "Ich habe zwei Gründe. Erstens fürchte ich mich davor, dass die kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion zusammenbrechen wird" - der Beamte unterbricht ihn: "Aber das ist ja vollkommen absurd! Die kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion ist unbesiegbar, bei uns kann sich nichts verändern!" "Nun, erwidert Rabinowitsch, das ist mein zweiter Grund."
Slavoj Zizek schreibt über seinen Lieblingswitz: Der Witz hat eine "dialogische Ökonomie" - er schließt die Reaktion des Zuhörers ein, der Protest gegen den ersten Grund produziert den zweiten.
Man hat den Eindruck, Deutschland und Ankara spielen derzeit Rabinowitsch. Mit Steigerungsstufe. Nach einem ersten Durchlauf, wo Erdogan schon gegen ein "seriöses" satirisches Lied protestiert hatte, legte Jan Böhmermann nach. Nach der Erklärung, was verbotene Schmähkritik sei - eine strafrechtlich relevante Diffamierung -, las der Satiriker ein Gedicht vor, das so geschmacklos wie möglich ist und alle rassistischen Stereotypen gegen Türken auffährt. Prompt protestierte Erdogan erneut. Und nun gibt es eine Debatte, die sich zu einer Staatsaffäre auswuchs: Ist das noch erlaubte Satire oder verbotene Schmähkritik (mit der Besonderheit der Majestätsbeleidigung)? Und ist es noch eine Schmähkritik, wenn man vorher warnt, das darf man nicht sagen - und es unter diesem Schutz ausspricht?
Wann sagt einer, der sagt: "Ich lüge", die Wahrheit? Wenn er lügt, widerspricht er sich, denn dann sagt er ja die Wahrheit. Und wenn er die Wahrheit sagt, dann lügt er - eben weil er nicht lügt. Das ist das Böhmermann-Paradoxon.
Je grauslicher, niveauloser und unverschämter Böhmermanns Gedicht ist - vom Ziegenficker bis zum Genitalgeruch -, desto mehr kippt es in Richtung Satire. Denn je grauslicher, desto unglaubwürdiger. Niemand, auch nicht Böhmermann, unterstellt Erdogan im Ernst solche Praktiken. Die Niveaulosigkeit macht aus dem Schmähen einen Schmäh. Je weniger grauslich, je niveauvoller man sich über Erdogan lustig macht - je mehr man der Forderung nach Sachlichkeit und "ernster" Satire Genüge tut -, desto mehr kippt es in Richtung echter Denunziation. Es ist dies die Unterscheidung zwischen Inhalt der Aussage und Art des Aussagens. Wann sagt einer, der sagt: "Es ist verboten, solch eine Schmähkritik zu machen" die Wahrheit? Dieser Gestus, das, was Juristen den "Kontext" oder die "Einbettung" in die Umstände nennen, verschiebt Böhmermanns Aussage. Was im Inhalt denunziert wird, wird durch die Art des Aussagens zur Satire - zu einer mit dialogischer Ökonomie. Denn erst Erdogans Reaktion produziert Böhmermanns zweiten Grund: die wahre Denunziation.
Diese Inszenierung der Öffentlichkeit hat nun einen gewissen Selbstlauf bekommen. Denn manchem Erdogan Anhänger fehlt Sinn für Dialektik. Jan Böhmermann steht mittlerweile unter Polizeischutz. Österreich aber muss sich fragen, warum es in der Gedichtsstelle "Recep Fritzl Priklopil" zwei Österreicher unter die ersten drei gebracht haben.