Zum Hauptinhalt springen

Das Boot ist noch lang nicht voll

Von Adrian Lobe

Gastkommentare
Adrian Lobe hat Politik- und Rechtswissenschaft in Tübingen, Paris und Heidelberg studiert und ist freier Journalist in Stuttgart.

Die Flüchtlingskrise offenbart nicht nur Politikversagen, sondern bedroht auch die europäische Idee von Freizügigkeit und offenen Grenzen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Fast täglich erreichen uns Bilder von Flüchtlingen: gekenterte Boote im Mittelmeer, verzweifelte Menschen, die auf Decken campieren und sich in heillos überfüllte Züge drängen, um auf der Flucht vor Armut oder Vertreibung den sicheren Hafen Europa anzusteuern.

Die EU reagiert auf diese Flüchtlingskatastrophe mit beispielloser Planlosigkeit. Jahrelang hatten die Staats- und Regierungschefs mit dem Menschenschinder Muamma al-Gaddafi paktiert, der Europa die Flüchtlinge vom Leib hielt, ehe Großbritannien und Frankreich den Diktator 2011 aus seinem Palast bombten und damit die Büchse der Pandora öffneten. In Libyen marodieren Milizen, der Islamische Staat hat sich in Sirte festgesetzt, kriminelle Banden und Schleuser treiben ihr Unwesen - der libysche Staat ist zerfallen.

An der Mittelmeerküste warten hunderttausende Menschen auf ihre Überfahrt. Es gleicht einem Himmelfahrtskommando, auf einer der morschen Barkassen über das Meer zu fahren. Der für den Grenzschutz zuständigen EU-Mission "Triton" fehlen die Mittel, um Migranten in Seenot zu helfen. Das Sterben im Mittelmeer geht weiter.

Und was macht die EU? Sie diskutiert über "Flüchtlingsquoten" und eine faire "Lastenteilung". Als stellten die Flüchtlinge einen Ballast dar, eine Ware, die quotiert werden müsste. Das ist der Humus, auf dem rechtes Gedankengut gedeiht. Es mutet wie ein Kuhhandel an: "Ihr nehmt so viele, wir nehmen so viele." Die Flüchtlinge müssen sich wie Verschubmasse vorkommen. So etwas ist menschenverachtend.

Jenseits dieser diskursiven Barrieren reagieren einzelne EU-Staaten mit einer fatalen Abschottungspolitik. Die slowakische Regierung kündigte jüngst an, keine muslimischen Flüchtlinge aufzunehmen, Ungarn errichtete sogar einen Grenzzaun.

1989 jubelte die Welt über den Fall der Mauer. Im Jahr 2015 werden neue Mauern gebaut. Die Grenzzäune in Ungarn und Südspanien bedrohen das europäische Projekt in seinem Kern: Freizügigkeit und offene Grenzen sind Werte, auf die sich die europäische Idee stützt. Die Flüchtlingskrise markiert einen Rückfall in nationalistisches Denken wie im Kalten Krieg: Man verschanzt sich in der Wagenburg. Wer wie Dirk Schümer jüngst in der "Welt" von der "Festung Europa" schreibt, wiederholt nicht nur NS-Vokabular, sondern redet auch einem verhängnisvollen Isolationismus das Wort.

Der Stacheldraht wird die Flüchtlinge nicht aufhalten, im Gegenteil.

Der Flüchtlingsstrom wird weiter anschwellen. Das Boot ist längst nicht voll. Die Millionen Menschen, die nach Europa kommen, werden die Gesellschaft viel weniger spalten als die neuen Zäune. Grenzen verbinden nicht, sie trennen - und sie grenzen aus. Die größte Errungenschaft des Friedensprojekts Europa, die Abschaffung von Schlagbäumen, wird leichtfertig aufs Spiel gesetzt.

Gewiss, das Asylrecht darf nicht missbraucht werden. Doch mit Parolen und Grenzwällen signalisiert man den Flüchtlingen: "Ihr gehört nicht zu uns!" Damit verrät die EU ihre eigenen Wurzeln, das aufklärerische Ideal von Freiheit und Gleichheit. Flüchtlingsströmen sollte man nicht mit Abschottung begegnen, sondern mit Offenheit.