Die EU-Gegner erhalten in Großbritannien großen Zulauf. Der Kampf um Mays Erbe ist unterdessen voll entbrannt.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
London/Wien. Es sind mit Sicherheit die skurrilsten EU-Wahlen, die bereits am Donnerstag in Großbritannien über die Bühne gegangen sind. Das Land wird nach einem eindeutigen Referendum aus der Union austreten - die Teilnahme an den EU-Wahlen sollte deshalb unbedingt verhindert werden. Nachdem das britische Brexit-Schiff aber manövrierunfähig ist und die mittlerweile gescheiterte Premierministerin Theresa May ihren Deal mit Brüssel nicht durch das Parlament gebracht hat, wurden die Briten gleichsam "zwangsweise" an die Urnen gerufen. Wahlen als "Unfall" also.
Liberale gewinnen dazu
Es ist nicht zu erwarten, dass die künftigen britischen EU-Mandatare im Parlament eine konstruktive Rolle spielen werden. Einerseits sieht London seine politische Zukunft woanders, andererseits war schon vor der Wahl klar, dass der prononcierte EU-Gegner Nigel Farage mit seiner neuen Brexit-Partei sehr gut abschneiden würde und unter Umständen zwei Dutzend Abgeordnete nach Brüssel entsenden kann. Was sie dort in den Monaten ab Juli genau machen werden, ist ein Rätsel. Wahrscheinlich wird sich die Tätigkeit der EU-Feinde mit Ablaufdatum auf Störaktionen beschränken.
Bemerkenswert ist, dass es in Großbritannien zwar ausgedehnte Demonstrationen gab, bei denen ein zweites Referendum über einen EU-Austritt oder gleich ein Verbleib in der Union gefordert wurde. Bei der EU-Wahl konnte sich allerdings keine Partei mit einer pro-europäischen Agenda überwältigend profilieren. Tories und Labour sind innerparteilich völlig uneins. Die Liberaldemokraten sind gegen den Brexit, haben gut, aber offenbar nicht sensationell abgeschnitten.
Dass der Austritt Großbritanniens aus der EU noch vor dem ersten Zusammentreten des neuen EU-Parlaments zustande kommt, ist wenig wahrscheinlich.
Kampf um May-Nachfolge
Nachdem Premierministerin May mit tränenerstickter Stimme ihren Rücktritt für 7. Juni angekündigt hat, ist die wichtigste EU-politische Frage, wie es beim Brexit weitergehen soll. Klar ist, dass der EU-Austritt am 31. Oktober erfolgen soll und ein Wettkampf um Mays Nachfolge begonnen hat, der stündlich an Intensität gewinnt. Als Favorit unter den Bewerbern gilt der führende Brexiteer und Ex-Außenminister Boris Johnson, der früher vor allem dadurch aufgefallen ist, dass er auf dem internationalen Parkett kein Fettnäpfchen ausgelassen und den Briten vor dem EU-Referendum das Blaue vom Himmel versprochen hat.
Nun hat in London die Stunde der Brexit-Hardliner geschlagen. Johnson hat bereits mit einem Austritt Großbritanniens ohne Abkommen - also mit einem harten Brexit - gedroht. Damit würden sich die Briten zwar in erster Linie ins eigene Fleisch schneiden, der Ansatz kommt bei vielen aber gut an. "No deal - no problem" war in den vergangenen Monaten auf vielen Transparenten zu lesen.
Johnson löst mit seiner Haltung allerdings in Großbritannien selbst Befürchtungen vor einem Brexit-Wettrüsten aus, bei dem die Kandidaten einander an Kompromisslosigkeit überbieten, um die Hardliner an der Parteibasis auf ihre Seite zu ziehen. Denn auf diese wird es in der Frage der Nachfolge Mays am Schluss ankommen.
Den Hut in den Ring geworfen haben mittlerweile auch Außenminister Jeremy Hunt, Ex-Arbeitsministerin Esther McVey und Gesundheitsminister Matt Hancock sowie der ehemalige Brexit-Minister Dominic Raab. Erwartet wird, dass bis zu 20 Konkurrenten den Kampf um den Tory-Parteivorsitz und damit um das Premiersamt unter sich ausmachen werden.
Dabei wird bereits jetzt klar, dass die Zerstrittenheit der politischen Klasse in Großbritannien keineswegs beendet ist, im Gegenteil. Finanzminister Philip Hammond meinte zuletzt, dass das britische Parlament einem harten Brexit niemals zustimmen werde. Ein Premier, der das Parlament ignoriere, habe keine Aussicht auf ein längeres politisches Überleben, so Hammond. Das einzige Erfolg versprechende Rezept sei der Weg des Kompromisses. Alles andere schätze er als "höchst gefährliche Strategie" ein. Eine Linie, die auf einen Brexit ohne jedes Abkommen mit der EU hinauslaufe, habe jedenfalls nicht seine Unterstützung, so der einflussreiche Tory-Politiker. Ärger ist also vorprogrammiert.
Dass es ohne Kompromiss nicht geht, hat auch May erkennen müssen - nachdem sie zuvor versucht hatte, ihre Linie ohne Rücksichten durchzubringen.
Ermittlungen gegen Farage
Angesichts dieser Probleme rückt der Umstand in den Hintergrund, dass das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) Ermittlungen gegen Nigel Farage einleiten könnte. Einem Bericht des Fernsehsenders "Channel 4 News" zufolge hat der Chef der Brexit-Partei Geschenke im Wert von 450.000 Pfund (rund 510.000 Euro) vom Versicherungstycoon Arron Banks angenommen. Dieser ist Mitgründer der Brexit-Kampagne "leave.eu".
Das EU-Parlament hat bereits vergangene Woche entschieden, eigene Untersuchungen gegen den euroskeptischen EU-Parlamentarier und früheren Parteivorsitzenden der EU-feindlichen Unabhängigkeitspartei Ukip einzuleiten. Farage weist jegliches Fehlverhalten von sich.