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Das Buch ist aufgeschlagen

Von Simon Rosner

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Bei der EM wird nicht einfach nur Fußball gespielt, auf dem Rasen werden auch viele Geschichten erzählt.


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Worum geht’s im Fußball? Zum Beispiel um Emotionen. Fans durchleben während eines Spiels verschiedene Gefühlsregungen, die in einer solchen Intensität und schnellen Abfolge im Alltag nicht vorkommen. Die Nervosität vor einem Spiel, die gespannte Hoffnung vor einem Freistoß, die Enttäuschung bei einer vergebenen Chance, die Angst, wenn der Gegner vor dem eigenen Tor auftaucht, die Erleichterung, wenn auch die andere Mannschaft nicht trifft. Binnen Sekunden kann sich tiefe Verzweiflung in Ekstase verwandeln, in Euphorie, um am Ende doch wieder zur Frustration zu mutieren. Und das alles innerhalb von 90 Minuten. Wo gibt’s das noch?

Man kann den Fußball freilich auch als ein Strategiespiel verstehen, bei dem jeder Pass, jeder Schuss einem Zug auf einem großen, grünen Schachbrett gleicht. Fans können stundenlang darüber diskutieren, warum ein Spiel so und nicht anders verlaufen ist, welche Fehler Trainer und Spieler begangen haben und wie sie hätten verhindert werden können. Keine andere Sportart ist so komplex wie der Fußball, daher sind dem Variantenreichtum und der Kreativität in taktischer Hinsicht kaum Grenzen gesetzt. Und auch nicht den Diskussionen, zumindest für Beobachter, die fachlich bewandert sind.

Der Fußball lässt sich aber auch als eine Art Buch verstehen, in dem viele kleine und große Geschichten erzählt werden. Jedes Spiel bietet eine Fülle an Geschichten, die sich mit Ereignissen in der Vergangenheit verknüpfen lassen. Dafür muss bei den Zuschauern natürlich ein Wissen über die Historie der Mannschaften und ihrer Protagonisten vorhanden sein.

Das Finale der Champions League ist ein gutes Beispiel, wie viele Geschichten ein einziges Match schreiben kann: Arjen Robben, jener Spieler, der großen Anteil daran hat, dass die Bayern überhaupt auf diesem hohen Niveau spielen, hat wie schon bei der Meisterschaftsentscheidung gegen Dortmund vom Elferpunkt versagt und den Bayern damit den ganz großen Erfolg verwehrt.

Auf der anderen Seite hat Didier Drogba mit seinem letzten Schuss für Chelsea den Titel geholt. Drogba hat den Verein geprägt, doch seine beste Zeit war vorüber. Er hatte nur fünf Tore in der Liga erzielt, doch in der Champions League sechs. Der Mann hatte noch eine Mission. Und dann war da noch die Vorgeschichte mit den vergebenen Elfern in zwei Finalspielen der Afrikameisterschaft mit der Côte d’Ivore. Hätte Drogba erneut vergeben, würde man ganz anders auf seine Karriere blicken.

Auch die großen Turniere erzählen unzählige Geschichten: Zinédine Zidane, der sich im WM-Finale 2006 auf einmal wieder im Käfig in Marseille wähnte, wo das Faustrecht galt, Paul Gascoigne, der 1990 wie ein Kind heulte, weil er für ein mögliches Finale gesperrt gewesen wäre, Oliver Kahn, der 2002 unüberwindbar war, doch im Endspiel seinen persönlichen Ikarus-Moment erlebte, als ihm der Ball aus den Händen glitt. Es sind Geschichten, die der Fußball schreibt, wie man so sagt. Am Ende dieser Euro wird man ein ganzes Buch solcher Erzählungen haben. Die erster Seite ist gerade erst geschrieben worden.

www.wienerzeitung.at/euro2012