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Das Burgenland, das jüngste Kind von Österreich

Von Erwin Schranz

Wissen

Es war eine schwere, doch erfolgreiche Geburt: Vor 100 Jahren wurde das vormalige Deutsch-Westungarn zum neunten Bundesland der Republik.


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Vor 100 Jahren kam das Burgenland zu Österreich. Es war keine Selbstverständlichkeit, dass es heute das neunte und jüngste Bundesland der Republik Österreich ist, denn sein Entstehen war mit heftigen Geburtswehen verbunden. Während die österreichische Reichshälfte der Monarchie nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg an allen Ecken und Enden beschnitten wurde, blieb das Burgenland der einzige Gebietsgewinn. Wie kam es dazu?

Seit längerem schon zeichneten sich Auflösungserscheinungen des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn ab. Der erste sichtbare Anstoß für eine Angliederung Deutsch-Westungarns an Österreich kam bereits 1906 vom ungarisch-rumänischen Politiker Aurel Popovici in einem Autonomie- und Aufteilungsplan. Einige eifrige Vertreter dieser Region in Wien, wie Josef Patry oder Gregor Meidlinger, begannen um diese Zeit, sich konkret Gedanken über eine Angliederung der westungarischen Verwaltungskomitate an die österreichische Reichshälfte zu machen. Schließlich lebten in diesem Gebiet rund 75 Prozent Deutsche, 15 Prozent Kroaten und 10 Prozent Magyaren.

Bela Kun (vermutlich 1922).
© Autor unbekannt, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Siegermächte dachten ursprünglich nicht daran, das ohnehin auf ein Drittel seines Staatsgebietes reduzierte Ungarn weiter zu zerschneiden. Österreich musste seinen Anspruch auf Deutsch-Westungarn erst in die Pariser Friedensverhandlungen hineinreklamieren und verlangte eine Volksabstimmung in den betroffenen Komitaten. Im ersten Entwurf der Friedensbedingungen blieben diese ungeschmälert ein Teil Ungarns. Erst im zweiten Entwurf vom 20. Juli 1919 war vorgesehen, Deutsch-Westungarn, sogar ohne Volksabstimmung, an Österreich anzuschließen. Durch zahlreiche Petitionen und Eingaben und mit Unterstützung amerikanischer Professoren sowie des britischen Außenministers Balfour war diese Kehrtwendung erreicht worden.

Günstiger Zeitpunkt

Ungarische Freischärler in Eisenstadt (1921).
© Public domain, via Wikimedia Commons

Da ganz Europa der zu dieser Zeit brutal regierenden kommunistischen Räterepublik Ungarns skeptisch gegenüberstand, konnte Österreich das Zeitfenster der 133 Tage von deren Anführer Bela Kun für seine Verhandlungsposition nützen. Dem Delegationsleiter Karl Renner war Deutsch-Westungarn ohnehin ein besonderes Anliegen, stammte doch seine Frau aus Güssing. Im betroffenen Gebiet schwankte man anfangs zwischen einer Autonomie im Rahmen des ungarischen Staates und einer direkten Angliederung an Österreich.

Am 6. Dezember 1918 riefen einige Arbeiter in Mattersburg die unabhängige "Republik Heinzenland" aus, benannt nach den Hianzen, den deutschsprachigen Einwohnern Westungarns. Schon nach zwei Tagen beendete Ungarn das schlecht vorbereitete und dilettantisch durchgeführte politische Experiment.

Im südlichen Komitat Eisenburg/Vas erhoben sich immer mehr Stimmen zugunsten Österreichs. Schon am 15. Dezember 1918 forderten in Heiligenkreuz im Lafnitztal 40 Gemeinden die Angliederung an die Steiermark. Im Norden wurde am 20. Jänner 1919 bei einer Volksversammlung in Ödenburg/Sopron ultimativ die volle Autonomie bis 29. Jänner verlangt, weil man ansonsten eine unabhängige Republik ausrufen würde oder die Angliederung an Österreich erfolgen sollte. Schon nach einer Woche, am 27. Jänner, kam Budapest dem Verlangen mit einem "Gesetz über die Selbstverwaltung der Deutschen in Westungarn" nach und ernannte einen Gouverneur, doch blieben weitere Schritte aus.

In den westungarischen Komitaten war durchaus noch der "ungarländische Patriotismus" zu spüren, der seit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 in mehreren Magyarisierungswellen über die Bevölkerung geschwappt war. Gebildete Kreise, auch die Geistlichen beider Konfessionen, sahen in der Treue zum ungarischen Staat eine staatsbürgerliche Tugend, während sich die bäuerlich-ländliche Bevölkerung eher für Österreich aussprach. Der beachtliche Einfluss der Beamtenschaft, der Lehrer und Pfarrer sollte sich später im proungarischen Ausgang der Volksabstimmung in Ödenburg im Dezember 1921 zeigen. Doch warum und wie gelangte der Angliederungsgedanke in der deutschen Bevölkerung Westungarns zum Durchbruch?

Erstens war aus sprachlichen Gründen eine Vereinigung mit Österreich naheliegend. Die Agitationsarbeit von Vereinigungen wie dem "Verein zur Erhaltung des Deutschtums in Ungarn" und "Deutsche Landsleute in Ungarn" zeitigte allmählich Früchte.

Ausrufung des Freischärler-Staates Lajtabánság (deutsch Leithabanat) am 4. Oktober 1921.
© Public domain, via Wikimedia Commons

Weiters verschreckte der "rote Terror" der Anhänger Bela Kuns die bäuerliche Bevölkerung: Sie sah nun in Wien das kleinere Übel. Sogar der spätere Freischaren-Führer Graf Thomas Erdödy sprach sich in dieser Phase für Österreich aus. Auch waren die Absatzmöglichkeiten für agrarische Produkte im nahen Wien wirtschaftlich verlockend - die Versorgungslage Wiens war nach dem Krieg katastrophal, und um des Hungers Herr zu werden, benötigte die Bundeshauptstadt humanitäre Hilfe aus dem Ausland.

Mit dem Fall des Räteregimes übernahmen im Dezember 1919 zwar konservative Kräfte um Admiral Nikolaus Horthy das Ruder in Budapest, zugleich wurde aber der Verbleib Deutsch-Westungarns bei Ungarn forciert und zentralistische Tendenzen verstärkten sich. Die Bevölkerung litt unter dem Einsatz von Freischärlern aus Inner-Ungarn, die Sympathien für Ungarn schwanden weiter.

Italien vermittelte

Zuletzt zeigten die ungarnfreundlichen Italiener - sensibilisiert durch die Istrien-Dalmatien-Frage mit Jugoslawien und aufgeschreckt durch slawische Korridorpläne zwischen der Tschechoslowakei und Jugoslawien über Westungarn - der österreichischen Seite nunmehr Entgegenkommen und initiierten Geheimverhandlungen in Venedig zwischen Österreich und Ungarn. Die Venediger Protokolle vom 13. Oktober 1921 enthalten letztlich einen von beiden Regierungen mitgetragenen Kompromiss, im Wege einer Volksabstimmung Ödenburg/Sopron als bevölkerungsreichste Stadt samt Umfeld bei Ungarn zu belassen, dafür aber das übrige Gebiet an Österreich anzuschließen.

Aber welche Ereignisse waren dem vorausgegangen und wie lief das dramatische Finale ab? Ab dem Spätsommer 1921 gewann die politische Entwicklung neuerlich an Dynamik. Ungarn versuchte, nach dem "Diktatfrieden" von Trianon vom 4. Juni 1920 zu retten, was noch zu retten war - es hatte schon zwei Drittel seines Staatsgebietes verloren. Daher verwies es auf die wirtschaftlich desolaten Zustände in Österreich und beschwor die vaterländischen Gefühle für das "Reich der Heiligen Stephanskrone", denn formell blieb Ungarn ein Königreich. Die Habsburger-Dynastie wurde am 6. November 1921 für abgesetzt erklärt, Admiral Horthy blieb aber Reichsverweser.

Die Republik Österreich wollte ab dem Sommer 1921 das Burgenland, dessen Name sich im Laufe des Jahres 1920 durchsetzte, endlich verwaltungsmäßig an Österreich angliedern, was aber misslang. Der Einmarsch österreichischer Gendarmerie- und Zollwacheabteilungen am 29. August 1921 - militärische Truppen waren von den Alliierten noch untersagt - scheiterte kläglich; die Einheiten waren mangelhaft ausgerüstet und wurden von ungarischen Freischärlern verbissen bekämpft.

Briefmarke von Lajtabánság/Leithabanat.
© Public domain, via Wikimedia Commons
Österreichische Gendarmerie auf dem Weg ins Burgenland, bei St. Georgen am Leithagebirge (1921).
© Public domain, via Wikimedia Commons

Diese schüchterten die Bevölkerung, besonders die Österreich-Befürworter, mit Terror ein und versuchten, inoffiziell unterstützt von der ungarischen Regierung, vollendete Tatsachen zu schaffen. Am 4. Oktober 1921 riefen sie in Oberwart/Felsöör den "unabhängigen Staat Leithabanat" aus. Die Freischärler hievten ihren Anführer Paul von Pronay an die Staatsspitze, schufen ein Staatswappen mit dem sagenhafte ungarischen Vogel Turul, gaben Briefmarken heraus und hoben Zölle ein.

Erst die offizielle Ankündigung der Volksabstimmung in Ödenburg brachte eine Entspannung der Situation. Das Ergebnis der vom 14. bis 16. Dezember 1921 durchgeführten Abstimmung war klar. Zwar kamen Manipulationen ans Tageslicht - so hatten die Ungarn auch Ortsfremde und sogar Verstorbene, nicht aber die vor den Freischärlern nach Österreich Geflüchteten ins Wählerverzeichnis aufgenommen -, doch entfielen in Ödenburg 15.343 Stimmen auf Ungarn und nur 8.273 auf Österreich. Insgesamt votierten 65,1 Prozent im ganzen Abstimmungsgebiet für Ungarn. Von den acht im Umkreis liegenden Gemeinden stimmten die meisten für Österreich, mussten aber das Schicksal der Stadt Ödenburg teilen, die als "Auszeichnung für ihre Treue" den Titel "Sopron - civitas fidelissima" verliehen bekam.

Die Volksabstimmung hatte die Gesamtlage entschärft, die Freischärler wurden von Budapest tatsächlich zurückgepfiffen, das österreichische Bundesheer konnte am 13. November 1921 ungehindert in das Burgenland einmarschieren und eine österreichische Verwaltung wurde eingerichtet.

Grenze im Zickzack

Die endgültige Grenzziehung oblag einer internationalen gemischten Kommission. Und wie schon aufgrund der Bahnlinie von Preßburg/Bratislava nach Steinamanger/Szombathely der nordöstliche Heideboden trotz deutscher Orte bei Ungarn verbleiben musste, wurden die zwei kroatischen Gemeinden Schachendorf und Schandorf wegen des Verlaufs der Bahnlinie nach Rechnitz gegen ihren Willen bei Österreich belassen.

Die südburgenländische Grenze endete in einer Zickzacklinie. Die Pinka floss nun nach Umrundung des Eisenberges auf 20 Kilometer Länge achtmal (!) im Wechsel über österreichischen und ungarischen Boden. Ungarische Großgrundbesitzer setzten durch, dass ihre Meierhöfe ungeteilt bei Ungarn verblieben, sodass nun der Grenzverlauf im Seewinkel spitze Zacken aufweist. Die kroatischsprachigen Gemeinden Prostrum/Szentpeterfa und Olmod/Bleigraben betrieben den Verbleib bei Ungarn, während die Orte Rattersdorf, Liebing und Luising erst 1923 "im Tauschwege" Österreich zugeschlagen wurden.

Von dem 5.801 km2 großen Territorium, das Österreich ursprünglich beanspruchte, kamen letztlich 3.967 km2 als neues Bundesland "Burgenland" zu Österreich. Man bedenke, was den in diesem Gebiet wohnenden Menschen erspart blieb, wenn man sich die Vertreibung der deutschen Bevölkerung - wie in Ödenburg/Sopron 1945/46 geschehen - oder die vierzig Jahre Kommunismus vor Augen hält. So entpuppte sich die Eingliederung des, wie es die Landeshymne besingt, "jüngsten Kindes" in den Reigen der Bundesländer zwar als eine "schwere Geburt", für Österreich aber als unverzichtbarer Gewinn und für die burgenländische Bevölkerung bisher als historischer Glücksfall.

Erwin Schranz studierte Rechts- und Politikwissenschaften sowie Publizistik. Er war Richter und burgenländischer Landtagspräsident.