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In dem jordanischen Flüchtlingslager Zaatari stehen Container wie in einer amerikanischen Kleinstadt.
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Zaatari. "Treten Sie ein, lassen Sie sich überraschen!" Muhanad grinst fröhlich, als er hinaus auf die staubigen Champs-Elysees tritt, um eine junge Frau und ihren künftigen Ehemann in seine kleine Braut-Boutique zu bitten. Drinnen ist es stickig und heiß, die nach hinten gegelten Haare kleben verschwitzt in Muhanads Nacken.
Die zwei Dutzend Schaufensterpuppen schmücken Brautkleider mit langen weißen Schleppen, schulterlose mit silbernen Ornamenten auf dem Dekolleté, Spaghettiträger mit Blumengesticken. Daneben Kleider in Orange, Grün und Violett.
"Die syrische Braut braucht immer zwei Kleider: eins für die offizielle Zeremonie, eins für die Party danach", erklärt Muhanad. Er verleiht die Kleider für 15 Dollar pro Tag. "Absolut in Mode, die neueste Kollektion aus Amman, die größte Auswahl in Zaatari", versichert er seiner Kundin stolz. Die Champs-Elysees sind nicht in Paris, Zaatari eigentlich ein Flüchtlingscamp und Muhanad ist früher Landwirt gewesen. Dass er einmal in der Modebranche arbeiten würde, daran hatte er im Traum nicht gedacht. Genauso wenig, wie sesshaft zu werden in Zaatari: dem größten Flüchtlingscamp im Nahen Osten, dem zweitgrößten der Welt. Denn eigentlich hätte keiner der 80.000 Menschen aus der Region Deraa im Süden Syriens, die heute im Camp leben, länger als ein paar Tage, vielleicht Wochen bleiben sollen. Inzwischen sind über vier Jahre vergangen. Und inzwischen hat Zaatari sich gewandelt: Vom Chaos-Camp mit einst über 200.000 Einwohnern, das die jordanische Regierung 2011 mithilfe des Flüchtlingshilfswerks UNHCR als Provisorium aus dem sandigen Wüstenboden gestampft hatte, zu einer Kleinstadt.
Eigeninitiative verwandelte Container in Straßenläden

Als der Krieg in Syrien endlos wurde und die baldige Rückkehr in die Heimat immer unwahrscheinlicher, haben die Menschen angefangen, den Straßen Namen zu geben und den Containern Hausnummern. Innenhöfe mit Tomatenstauden und Blumen bepflanzt und Straßenläden eröffnet.
Heute schmiegen sich an die zehn Brautmodeläden in Zaatari kleine Parfümerien und stickige Internetcafés. Es duftet nach frisch frittiertem Falafel und gebrannten Mandeln. Laut klingelnd kurven die jugendlichen Kuriere vom Pizza-Lieferservice im Slalom um die Passanten.
Wenige Meter entfernt von Zaataris Shoppingmeile sitzt Gavin White im Basecamp des Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Als stellvertretender Camp-Manager ist White so etwas wie der Vize-Bürgermeister: "Die Eigeninitiative und die Erwartungen der Syrer haben uns dazu gezwungen, unser Konzept auf private Haushalte umzustellen. So arbeiten wir, was etwa Wasserversorgung und Elektrizität angeht, weit über den humanitären Standards des UNHCR in Refugee-Camps."
Die Größe und der Organisationsaufwand werden einem bewusst, wenn man vor dem Lageplan steht, der an Whites Büro-Wand hängt. Ein Plan, der eher an den Grundriss einer Kleinstadt in den USA erinnert als an ein Flüchtlingscamp: Schnurgerade Straßen, die das Camp in 12 Distrikte unterteilen, zwei Krankenhäuser, in denen pro Woche im Schnitt 80 Kinder geboren werden, neun Schulen mit über 20.000 Schülern. Mittendurch die 1,8 Kilometer langen Champs-Elysees.
Während in Syrien weiter der Krieg wütet, ist hier in Zaatari eine eigene Subökonomie entstanden. Gefüttert wird diese von den Geldern der ins Ausland geflohenen Diaspora und den zwei Millionen Euro, die das Welternährungsprogramm jeden Monat in Form von Wertbons ausschüttet. Davon profitieren nicht nur die Syrer selbst, sondern auch jordanische Händler. Jeden Morgen bahnen sich lange Karawanen aus Lastwagen ihren Weg zum Camp. Vor dem Haupteingang werden dann Obstkisten entladen, Textilien gehandelt und alte Küchengeräte auf Eselskarren verfrachtet. "Schon vor dem Krieg haben die Menschen aus Deraa und die Jordanier Handel betrieben", erklärt White. Das Wiederaufleben ist auch ein Stück weit Rückkehr zur Normalität.
650.000 syrische Flüchtlinge sind beim UNHCR in Jordanien registriert. Die Regierung schätzt die Zahl gar auf 1,4 Millionen. Es gleicht fast einem Wunder, dass das Land trotz überlasteter Infrastruktur, wachsendem Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt, notorischem Wassermangel und Terrorangst es in den letzten fünf Jahren geschafft, den Zustrom aus dem Nachbarland zu absorbieren, ohne dass es zu größeren Ausschreitungen der heimischen Bevölkerung kam. Dass es ruhig blieb im haschemitischen Königreich, das da eingepfercht liegt zwischen den Krisenstaaten Irak und Syrien, zwischen Saudi-Arabien und Israel.
Die Europäische Union hat großes Interesse daran, dass das so bleibt, und will einen weiteren Exodus vermeiden wie im Sommer 2015, als das Welternährungsprogramm die Unterstützung für Flüchtlinge kürzte und sich Zehntausende auf den Weg nach Europa machten. Deshalb hat die EU im Frühling nicht nur einen Deal mit dem Erdogan-Regime in der Türkei, sondern auch einen mit König Abdullah in Amman geschlossen: Die EU verspricht günstige Kredite und jordanischen Unternehmen einen erleichterten Zugang zum europäischen Binnenmarkt, im Gegenzug soll die jordanische Regierung 50.000 Syrern eine Arbeitserlaubnis erteilen.
Die Lage für syrische Flüchtlinge in Jordanien ist aber noch immer äußerst prekär: Arbeiten darf bisher kaum jemand. Der Großteil der Flüchtlinge, 80 Prozent, der außerhalb der Camps lebt, muss sich in der Illegalität durchschlagen, da sich Miete und Lebensmittel kaum bezahlen lassen von den 25 Euro, die ein Flüchtling vom Welternährungsprogramm im Monat erhält.
Wer dagegen im Camp lebt, tauscht die Freiheit gegen Sicherheit ein. Die freundliche Fassade der Champs-Elysees täuscht. Hinter den kleinen Läden kesselt ein drei Meter hoher Maschendrahtzaun die Menschen ein. Jordanische Sicherheitskräfte kontrollieren an den Ausgängen, dass niemand ohne polizeiliche Genehmigung das Camp verlässt. Für viele ist das Camp mehr ein elendes Freiluftgefängnis als eine Kleinstadt. Trotzdem haben es 60 Prozent aller Erwachsenen in Zaatari geschafft, Arbeit zu finden. In lokalen Unternehmen auf den Champs-Elysees, in den Cash-for-Work-Programmen des UNHCR oder auf den Feldern rund ums Camp; hinzukommen über 3000 arbeitende Kinder.
Eine von ihnen ist Sheima. Es ist 16 Uhr, erschöpft lässt sich die 13-Jährige auf die abgewetzte Matratze in dem von der Sonne zur Unerträglichkeit aufgeheizten Wohncontainer fallen. Das verschwitzte, weiße Kopftuch klebt an der Stirn, an der Wand hängen Fotos: Sheima lachend beim Seilspringen mit den Freundinnen, Sheima, die stolz eine Fußballmedaille in die Luft reckt, die langen braunen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Das war damals. In Syrien. "Im Paradies", wie sie es nennt. Doch Zaatari ist nicht das Paradies. Und Sheima kein Kind mehr. Krieg, Flucht und Zaatari haben ihrer Kindheit ein jähes Ende gesetzt. Heute zeichnet ein hässliches Muster aus Schnitten und Schlieren ihre kleinen Hände, der Rücken schmerzt. "Wir müssen schon um fünf aufstehen, um den Bus nicht zu verpassen, der uns auf die Kartoffelfelder bringt", sagt sie. Acht Stunden arbeitet sie auf den Feldern, acht Dollar bekommt sie dafür. Sheima zuckt mit den Schultern: "Entweder ich gehe arbeiten oder meine Familie muss im Winter frieren." Die Wertcoupons des Welternährungsprogramms und das Geld, das sich Sheimas Vater in verschiedenen Tagelöhnerjobs dazu verdient, reichen kaum aus, um die achtköpfige Familie zu versorgen. So hat Sheima am Ende nur einen großen Traum. Einen der sie mit Muhanad, dem Brautkleidverkäufer und den vielen anderen Menschen eint, die das Schicksal Zaatari teilen: Zurückkehren nach Syrien. In die Heimat. Das zerstörte Paradies.
Zwischen 50 und 150 Syrer kehren jede Woche zurück
Schon jetzt verlassen wöchentlich zwischen 50 und 150 Menschen das Camp, um ins zerbombte Deraa zurückzukehren, obwohl dort weiter an vielen Fronten blutige Kämpfe ausgetragen werden.
"Sobald der Krieg vorbei ist, können wir das Camp hier abbauen", versichert Gavin White vom UNHCR. Er ist optimistisch. "Mit dem Ehrgeiz und dem Eifer, mit dem die Menschen Zaatari in vier Jahren in eine Stadt verwandelt haben, werden sie zurückkehren und die zerstörte Heimat aufbauen, bis jeder Stein wieder auf dem anderen steht."