Der Aufstieg aus armen Verhältnissen zum Staatspräsidenten ist nicht untypisch für die aufstrebende türkische Gesellschaft.
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Zugegeben, der wirtschaftliche Aufschwung in der Türkei ist beeindruckend, auch strotzt die neue türkische Mittelschicht nur so vor Selbstbewusstsein, trotzdem ist die Entwicklung in der Türkei mit Vorsicht zu genießen. Tatsächlich geht eine positive ökonomische Entwicklung nicht immer einher mit einer Konsolidierung demokratischer Grundwerte. Mit dem enormen Aufschwung der vergangenen Jahre sowie der Ambition der Regierung, die Türkei bis zum Jahr 2023 unter die ersten zehn Wirtschaftsnationen zu etablieren, hat sich innerhalb der Regierung eine charismatische Dynamik entwickelt, deren Kern der bisherige türkische Premierminister und neue Präsident Recep Tayyip Erdogan bildet, der am Donnerstag seinen Amtseid ablegte.
Der Aufstieg des Kindes aus armen Verhältnissen zum mächtigsten Mann der Türkei ist beeindruckend, jedoch nicht untypisch für eine Gesellschaft, die sich durch eine ausgeprägte soziale Mobilität auszeichnet und in der Aufstiegschancen noch möglich sind. Typisch für den Charismatiker Erdogan ist sein Heilsversprechen, welches in seinen Reden symptomatisch zur Geltung kommt. So appelliert Erdogan an seine Anhänger, sich die Größe des Osmanischen Reiches vor Augen zu führen, oder aber er beschwört islamische Werte, denen er die vermeintliche Dekadenz des Westens gegenüberstellt.
Es ist insbesondere die von Erdogan gepflegte polarisierende Rhetorik, welche seine Anhänger in seinen Bann schlägt und die türkische Gesellschaft in ein westlich orientiertes und islamisch-konservatives Lager spaltet. Auch versucht Erdogan, sich mit bahnbrechenden Infrastrukturprojekten in die Reihe alter Osmanensultane zu stellen. So trägt beispielsweise die neue Brücke über den Bosporus den Namen des neunten Osmanensultans Selim I. (1470 bis 1520), genannt Yavuz (der Gestrenge, der Grausame), welcher für die Verfolgung der alevitischen Minderheit verantwortlich zeichnete.
Verschwiegen wird, dass das türkische Wirtschaftswunder größtenteils westlichen Kapitalströmen zu verdanken ist. Tatsächlich ist die Türkei längst ein Global Player.
Eine sich von der Weltwirtschaft abschottende Türkei würde das Ende des Aufschwungs bedeuten. Wer Istanbul in Abständen von einem oder zwei Jahren besucht, der kann sich mit eigenen Augen von der ungeheuren Dynamik des Landes überzeugen. Moderne Wolkenkratzer stehen hier neben osmanischen Moscheen, extravagante Shoppingmalls neben alten osmanischen Brunnen und Badehäusern, kontrastreicher kann man sich eine Gesellschaft kaum vorstellen.
Und dies ist auch gut so, denn eine Türkei, die sich für den Westen und gegen den Osten - und vice versa - entscheidet, wird ihrer geografischen Sonderstellung nicht gerecht. Es bedarf einer besonderen politischen Sensibilisierung den faktischen Gegebenheiten der türkischen Gesellschaft gegenüber, einer Art permanenten Seiltanzakts der türkischen Regierung, um dieser Brückenfunktion der Türkei gerecht zu werden.
Wenn Recep Tayyip Erdogan auch künftig fest im Amtssattel sitzen möchte, so dürfen wir davon ausgehen, dass er die offene und weltweit vernetzte türkische Gesellschaft nicht antasten wird.
Bülent Kacan ist Schriftsteller in Minden (Nordrhein-Westfalen).