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Das Delta-Experiment

Von Simon Rosner

Politik
Das Delta-Virus wirft viele Frage auf. Noch sind viele nicht beantwortet.
© stock.adobe.com / Talaj

Die vierte Welle baut sich auf. Doch das Infektionsgeschehen hat sich durch die Corona-Impfungen vom Erkrankungsgeschehen entkoppelt. Doch wie stark? Das ist nicht die einzige offene Frage. Ein Überblick.


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Neun, zehn, elf, zwölf. Jeden Tag stieg die Sieben-Tages-Inzidenz von Corona-Infektionen um etwa eins. Die Zahlen sind gering, geradezu winzig im Vergleich zu dem, was im Winter zu beobachten war. Aber es geht dann eben schnell bei exponentiellem Wachstum. Am Mittwoch war man schon bei 15. Nur ganz am Beginn der Pandemie sah man in Österreich über längere Zeit derart hohe Wachstumsraten von rund zehn Prozent.

Schreibt man diese Entwicklung fort, würde in etwa zwei Wochen die kritische Inzidenz von 50 erreicht werden. Das ist immer noch niedrig, aber für die Kontaktnachverfolgung bereits eine Herausforderung. Und, wie gesagt, es geht dann sehr schnell. Weitere zwei Wochen später wäre man bei einer Inzidenz von 250 wie im Frühjahr und wieder 14 Tage später bei 1.000. Das gab es noch nie und hieße mehr als durchschnittlich 10.000 Neuinfektionen pro Tag.

Das ist ein Extremszenario, von dem unsicher ist, ob es eintritt. Bisher hat die Bundesregierung bei einer derartigen Entwicklung aber irgendwann die Notbremse in Form von kontaktbeschränkenden Maßnahmen bis hin zum Lockdown gezogen. Damit brach man die Infektionswelle. Zu diesen Einschränkungen will die Regierung durch die Verfügbarkeit einer wirksamen Impfung aber nicht mehr greifen. Das heißt, alles soll geöffnet bleiben, Cafés, Hotels, Geschäfte und auch Diskos. Die Pandemie, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz, werde ein individuelles Risiko. Aber ist es das?

Sicher ist: Das Infektionsgeschehen entkoppelt sich durch die Schutzimpfung vom Erkrankungsgeschehen. Schon früh in der Pandemie wusste man in etwa, wie viele Infizierte ins Spital, wie viele auf eine Intensivstation müssen und wie hoch die Sterblichkeit ist. Dieses Wissen war für die politische Steuerung wichtig, denn von Beginn an war es das oberste Ziel der Politik, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Auch gesetzlich ist der Lockdown derart verankert.

314 Impfdurchbrüche in Österreich - offiziell

Das Wissen aus dem Vorjahr ist heute aber nur mehr bedingt nützlich, denn die Kalkulationen bezogen sich auf eine nicht immune Bevölkerung. Doch wie hoch ist die Mortalität in einer geimpften Bevölkerung? Wie viele Ungeimpfte erkranken am Delta-Virus schwer? Wie viele müssen auf einer Intensivstation behandelt werden, auch wenn 75 Prozent geimpft sind? Entscheidend ist dabei nicht nur die Durchimpfungsrate, sondern auch, wie gut die Impfung vulnerable Personen mit bereits schwachem Immunsystem schützt. Wirkt sie sehr gut oder doch nur mittelmäßig? Diese Fragen sind für die politische Steuerung zentral. Aber sie sind mit bisherigen Daten noch nicht zu beantworten.

Thomas Czypionka, Mediziner und Gesundheitsökonom am Institut für Höhere Studien, sagt, dass es sogar noch zu früh sei, die Wirksamkeit der Impfung gegen die nun grassierende Delta-Variante seriös zu taxieren. "In Israel sehen wir schon viele Impfdurchbrüche auch nach zwei Impfungen", sagt er. In Österreich wurden vom Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen bisher 314 Fälle genannt, in denen Personen trotz Vollimmunisierung erkrankten (symptomatische Infektionen), 16 starben. Es handelt hierbei um aktive Meldungen an das Bundesamt, die Dunkelziffer dürfte daher weit größer sein.

Dass die Impfung grundsätzlich gut wirksam ist, lässt sich in Großbritannien sehen. Schottland hatte etwa noch nie so viele Infektionen wie derzeit, die Erkrankungswelle ist aber deutlich geringer. Doch das heißt nicht, dass Covid-19 aus den Spitälern verschwunden ist. Die vierte Welle löste auf der Insel sehr wohl auch einen Anstieg an Hospitalisierungen aus, bisher ist das aber noch verkraftbar. Aber bleibt das so?

Die Nachtgastronomie bleibt eine Herausforderung

Sich im Pandemiemanagement weiterhin nur auf die Intensivkapazitäten zu fokussieren, hält Gesundheitsökonom Czypionka für falsch. "Das kann so nicht bleiben", sagt er. "Man muss schon auch an das Schicksal der Menschen denken. Aber wir müssen ja nicht so schwerwiegende Maßnahmen setzen." Der Forscher denkt etwa an eine Ausweitung der Maskenpflicht und der Abstandsregelungen. "Das ist gerade bei Delta sinnvoll." Die Nachtgastronomie und Massenevents sind, wie in ganz Europa zu sehen ist, jedenfalls ein Problem. In den Niederlanden und Spanien gibt es bereits Einschränkungen.

Zu beachten ist, dass eine sehr hohe Inzidenz auch andere Auswirkungen hat, selbst wenn die Zahl der Spitalspatienten mit Covid-19 beherrschbar ist. Es gibt Fälle von Langzeitverläufen und Folgeschäden einer Infektion (Long-Covid), die auch jüngere Personen und auch solche mit leichten oder gar asymptomatischen Verläufen betrifft. In der wissenschaftlichen Literatur finden sich zahlreiche Arbeiten dazu, die Bandbreite der Betroffenen und auch der Symptome ist aber hoch. In Großbritannien geht man von zwölf Prozent aus, die auch nach einem halben Jahr nach Genesung Beschwerden haben.

Die Impfung könnte den Nebeneffekt haben, dass sie Symptome von Long-Covid-Patienten bessern. Darauf deutet zumindest eine erste Untersuchung aus England hin. Aber kann sie auch Langzeitverläufe bei geimpften Infizierten verhindern oder zumindest maßgeblich reduzieren? Auch diese Frage ist noch unbeantwortet, aber wichtig für das Pandemiemanagement. Andernfalls würde aus einem "individuellen Risiko" durch Dauerkrankenstände en gros ein gesellschaftliches und volkswirtschaftliches Risiko werden.

Bereits jetzt zeigt sich in Großbritannien mit einer Inzidenz von rund 350, welche unmittelbaren Auswirkungen eine solche Verbreitung des Virus hat. Noch läuft das Schuljahr in England, aber elf Prozent der Schüler sind in Quarantäne. Auch für die Wirtschaft ist es relevant, wenn es sehr viele Infektionen gibt, da diese Arbeitskräfte den Unternehmen dann temporär nicht zur Verfügung stehen. Und das ausgerechnet in einer Phase des Aufschwungs. "Hohe Infektionszahlen haben einen massiv dämpfenden Effekt auf die Wirtschaft", erklärt Gesundheitsökonom Czypionka.

In Österreich müssen auch enge Kontaktpersonen in Quarantäne, wenn sie nur eine Impfung erhalten haben, Ungeimpfte sowieso. Aber auch eine symptomlose Infektion einer geimpften Person führt zumindest kurzfristig zu einer Quarantäne. Es braucht nach 48 Stunden einen zweiten Test. Sollte also die Zahl der Infektionen sehr hoch werden, könnten sich allein durch Absonderungen relevante wirtschaftliche Effekte ergeben. Das allein zeigt, dass die Pandemie noch keine rein individuelle Angelegenheit ist. Langfristig wird das Virus endemisch werden, das ist in der Wissenschaft Konsens, also Sars-CoV-2 Teil des normalen Infektionsgeschehens werden. Durch die kollektive Immunität sollte es aber keine großen Erkrankungswellen geben. Noch ist man aber erst auf dem Weg dorthin, und es ist unklar, wo man sich genau befindet.

Die Tücken des exponentiellen Wachstums

Auch gesellschaftlich ist diese Phase herausfordernd. Werden es Eltern akzeptieren, dass sich ihre nicht geimpften Kinder bei hohem Infektionsgeschehen wohl oder übel in der Schule infizieren werden (wie bei anderen Infekten auch)? Und akzeptieren die Menschen, dass sie das Risiko einer Infektion nur mehr bedingt steuern können und auf einen Impfschutz hoffen müssen, der zwar gut, aber eben nicht perfekt ist?

"Das Problem der Individualisierung ist, dass jene, die sich schützen wollen unter einen unheimlichen Druck kommen", sagt der Sozialforscher Bernhard Kittel vom Austrian Corona Panel. Setzte man eine Maske auf, wenn keiner der Freunde eine trägt? "Das erfordert ein hohes Maß an Selbstsicherheit", sagt Kittel. Daten aus den Befragungen des Corona Panels zeigen, dass derzeit nur mehr zehn Prozent die gesundheitliche Gefahr für sich als hoch oder sogar sehr hoch einstufen, zwei Drittel hingegen als gering oder sehr gering. Gefragt nach der Gefahr für die allgemeine Bevölkerung, weichen die Angaben ab. Immerhin ein Viertel sieht hier nach wie vor ein Risiko. Dieses Viertel könnte von der Politik fordern, mehr Maßnahmen gegen eine vierte Welle zu unternehmen. Gesellschaftliche Konflikte könnten sich in dieser Phase also noch vertiefen.

Die Akzeptanz einer Hochinzidenz birgt aber auch ein epidemiologisches Risiko, denn die politische Steuerung wird schwierig. Angenommen es zeigt sich, dass der Anteil jener Infizierter, die doch schwerer erkranken, höher als erwartet ist. Es ist durchaus denkbar, dass die Welle von selbst abflaut, ehe sie dann vielleicht im Herbst wieder etwas ausschlägt. Die jüngste Entwicklung in Schottland gibt erste zarte Hinweise darauf. Doch wenn doch Kontaktbeschränkungen notwendig sein sollten, bleibt kaum Zeit dafür. Das ist das Tückische am exponentiellen Wachstum. Der Vorarlberger Public-Health-Experte Armin Fiedler erzählt dafür das Beispiel der Seerosen, die sich in einem Teich exponentiell verbreiten. Jede Woche verdoppelt sie sich, nach 48 Wochen haben die Seerosen dann den gesamten Teich komplett bedeckt. Nach wie vielen Wochen ist der Teich zur Hälfte bedeckt? Intuitiv sagen viele: nach 24 Wochen. Doch das ist eben falsch: Es sind 47 Wochen. Es geht dann schnell.