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Das deutsche Dilemma

Von unserem Korrespondenten Markus Kauffmann aus Berlin

Politik

Vertrauensfrage, Bundestagsauflösung und vorzeitige Neuwahl: Seit acht Wochen rätselt Deutschland, ob der von Bundeskanzler Schröder eingeschlagene Weg zu einem politischen Neuanfang mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Als letzte und entscheidende Instanz schaltete sich nun am Dienstag das Bundesverfassungsgericht in die aufgeheizte Debatte ein. Dieses muss klären, ob Bundespräsident Horst Köhler das Parlament vorzeitig auflösen und gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes Neuwahlen ansetzen durfte.


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Auch wenn Gerhard Schröders Weg zur vorzeitigen Auflösung des Bundestages nicht verfassungswidrig sein sollte, ist er dennoch ein Stück aus der politischen Trickkiste. Die Weimarer Republik erscheint als Menetekel an der Wand: 17 Regierungen in nur 14 Jahren verschlissen; keine einzige Legislaturperiode bis zum regulären Ende durchgehalten; Missbrauch des Auflösungsrechtes durch den Reichstagspräsidenten.

Nachkriegs-Deutschland sollte stabiler werden: Das Grundgesetz von 1949 verwehrt dem Bundestag ein Selbstauflösungsrecht und baut enorme Hürden auf, um die vorzeitige Beendigung einer Legislatur zu verhindern.

Alles schaut zurzeit gebannt nach Karlsruhe: Gestern, Dienstag, haben Verfassungshüter erstmals die Klagen von Politzwergerln wie "Pro Deutsche Mitte - Initiative Pro D-Mark" oder "Anarchistische Pogo Partei Deutschland" behandeln, aber auch die Beschwerden zweier Abgeordneter (jeweils SPD und Grüne) geprüft.

An der Neuwahl selbst zweifelt indes kein Kundiger mehr. Im äußersten Fall könnte noch der Wahltermin (18. September) wackeln. Niemand rechnet damit, dass das Verfassungsorgan "Bundesverfassungsgericht" den anderen Verfassungsorganen "Bundeskanzler", "Bundestag" und "Bundespräsident" ein Auge aushackt. Die Experten erwarten einen eher formalistischen Beschluss, der den Spielraum für die Politik offen hält. Sollte es wider aller Erwartung doch anders kommen, müsste der Bundespräsident seinen Auflösungsbeschluss widerrufen.

Dennoch ist das Unbehagen groß: Wenn es genügt, dass ein Bundeskanzler behauptet, er habe keine Mehrheit hinter sich, obwohl er bisher noch keine einzige Abstimmung verloren und allein in einer Periode 32 Mal die sogenannte "Kanzlermehrheit" (die absolute Mehrheit aller gewählten Abgeordneten) hatte. Manche meinen daher, die Vertrauensabstimmung habe Schröder nur als Vehikel gedient, sich selbst aus einer Vertrauens- und Schaffenskrise zu bringen.

Der verfassungsrechtliche Pfad zu vorzeitigen Wahlen ist schmal. Nur wenn das politische Verhältnis zwischen dem Bundeskanzler und der Bundestagsmehrheit dauerhaft zerrüttet ist, kann er, wie jetzt geschehen, gemäß Artikel 68 nach einer verlorenen Vertrauensabstimmung dem Bundespräsidenten die Parlamentsauflösung vorschlagen. Offenkundig wollte der Verfassungsgesetzgeber nicht, dass sich der Bundestag nach Belieben selbst auflösen kann - im Gegensatz zum österreichischen Nationalrat, der seine vorzeitige Auflösung mit einfacher Mehrheit beschließen kann und dabei an keine inhaltlichen Vorgaben gebunden ist. Im Gegensatz auch zu allen 16 deutschen Länder-Verfassungen, die ein Selbstauflösungsrecht vorsehen.

Selbstauflösung als Ausweg?

Nach den sozialdemokratischen Verrenkungen der letzten Wochen ("weil Schröder unser Vertrauen hat, haben wir es ihm entzogen") entflammte in Deutschland eine auch eine Debatte darüber, ob man den Parlamentariern nach fast 60 Jahren nicht doch das Recht einräumen solle, sich selbst frühzeitig in die Wüste zu schicken. Bisher hat sich der Gesetzgeber zu dieser Entscheidung nie durchgerungen. Kürzlich hat sich aber Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) dafür ausgesprochen, nach der Wahl das Grundgesetz behutsam und in aller Ruhe zu ändern. "Kommt nicht in Frage", konterte hingegen Wolfgang Schäuble (Union). Er verweist auf die Gefahr der Manipulation mit Wahlterminen, die Benachteiligung kleinerer Parteien und befürchtet eine Destabilisierung durch populistische Demagogen. Ähnlich sieht das Finanzminister Hans Eichel (SPD).

Die Gegenposition vertreten Seit' an Seit' und beinahe inhaltsgleich der CDU-Innenpolitiker Bosbach und der SPD-Regierungschef Berlins, Wowereit. Wie Thierse wollen auch sie ein Auflösungsrecht mit einem hohen Quorum, also Zwei-Drittel oder gar Drei-Viertel-Mehrheit. Naturgemäß trifft man bei den kleineren Parteien in dieser Frage auf größere Zurückhaltung: Joschka Fischer (Grüne) hält zwar das jetzige Verfahren für "ohne jeden Zweifel nicht befriedigend", aber man dürfe nicht "einfach mal so das Parlament auflösen". Noch klarer hat die FDP durch ihren Rechtspolitiker Rainer Funke die Verfassungsänderung abgelehnt.

Das Pro und Kontra ist nur für Verfassungskenner nachvollziehbar. Auf den ersten Blick scheint plausibel, die Parlamentarier selbst entscheiden zu lassen und ein hohes Quorum sieht nach hoher Sicherheit aus. Doch bei näherem Hinsehen entdeckt man, wie fein das Grundgesetz die politische Balance und wechselseitige Kontrolle zwischen den Verfassungsorganen austariert hat, die durch jede Änderung ins Wanken geriete. Würde das Höchstgericht ohne mahnende Einschränkungen die Methode Schröder billigen, dann hätte Werner Schulz, einer der klagenden Abgeordneten, recht, dass sich Deutschland auf dem Weg zu einer "Kanzlerdemokratie" befindet.

"Wir erleben auch hier einen Paradigmenwechsel wie in allen Feldern der Politik", sagt Rechtsexperte Jörg Böhl von der Bundestagsfraktion der Union. "Während es den Vätern der Verfassung vorwiegend um Sicherheit und Stabilität ging, sehen wir heute den Wunsch nach Dynamik und Veränderung". Man wird sehen, ob der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung, die bis Ende August fallen soll, einen Weg weist.