Griechenlands Regierung verabschiedet neue Sparmaßnahmen, damit die nächste Tranche aus dem Hilfspaket ausgezahlt wird.
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Athen. Der Michalis Routzakis wühlt in einem Plastiksack aus dem Supermarkt. Er ist voller Medikamente. Endlich hat der 66-jährige Grieche die Arznei gefunden, die er um diese Zeit unbedingt nehmen muss. Täglich. Er schluckt die Tablette. Den Sack lässt er auf dem Holztisch in seinem Wohnzimmer. Er wird bald wieder hineingreifen.
Routzakis erlitt im August 2013 gleich mehrere Herzinfarkte. Er braucht im Monat rund 300 Euro für Medikamente. Das ist der Eigenanteil, den er zu berappen hat, obgleich ihm amtlich ein Behinderungsgrad von 80 Prozent bescheinigt wurde. Das Geld hat er nicht. Sein Einkommen beträgt null Euro, schon seit Jahren. Auf seine Pension wartet er noch. Um die Medikamente gratis zu bekommen, macht er sich immer wieder auf den Weg zu einer Sozialklinik, die auf Spendenbasis tausende notleidende Patienten versorgt. Dabei war der studierte Ökonom Routzakis Topmanager in diversen Baufirmen, verdiente 7000 Euro im Monat und lebte 40 Jahre lang mit seiner Familie im reichen Norden der Vier-Millionen-Metropole, zwei seiner drei Kinder haben in London studiert.
Zum Verhängnis wurde ihm eine Investition in eine Windparkanlage auf dem Peloponnes. Sein Geschäftspartner, eine große französische Firma, ließ ihn im Stich, als die desaströse Krise in Hellas ihren Anfang nahm. Die Begründung der Franzosen: Griechenland habe keine Zukunft mehr.
So verlor Routzakis sein ganzes Hab und Gut. Er musste seine Häuser verkaufen, die Ölbilder, den Familienschmuck. Was sich tief ins Gedächtnis seiner Frau Erofili, früher Verkäuferin, nun ebenfalls arbeitslos, eingegraben hat: "Der schlimmste Moment war, als wir unsere Eheringe verkaufen mussten." Ihre Stimme stockt, die Stimme versagt. Erofilis Augen füllen sich mit Tränen.
Für all die Medikamente, für die Miete für die Wohnung im Südosten Athens, für die Lebensmittel aus dem Diskonter: Das Paar brauche etwa 1500 Euro im Monat, um über die Runden zu kommen. Das Geld kriegen sie von Verwandten, auch aus dem Ausland. Sie schämen sich dafür. Aber es geht nicht anders. Denn in Hellas existiert keine Grundsicherung. Das Arbeitslosengeld, ohnehin ein Almosen, wird höchstens 24 Monate bezahlt. Danach ist Schluss.
Drittes Sparpaket unter Tspiras
Routzakis’ Lage wird sich auch nicht verbessern, wenn die Athener Links-Rechts-Regierung unter dem im Juli 2015 jäh gezähmten Spargegner Alexis Tsipras vom "Bündnis der Radikalen Linken" ("Syriza") nach monatelangen, zähen Verhandlungen mit Griechenlands öffentlichen Geldgebern EU, EZB, IWF sowie ESM nun plötzlich im Eilverfahren im Athener Parlament ein neues, schmerzliches Sparpaket durchgepeitscht haben wird. Die Abstimmung findet Donnerstagabend statt.
Generalstreik am gestrigen Mittwoch hin, landesweite Protestkundgebungen am Fuß der Akropolis am heutigen Donnerstag her: Es ist schon das neunte Sparpaket, das in Athen seit März 2010 verabschiedet wird - und das dritte unter der Regierung Tsipras. Damit wird Griechenland höchstwahrscheinlich die nächste Tranche aus dem 86 Milliarden Euro umfassenden Hilfspaket der Gläubiger erhalten.
Es ist ein Konvolut, 941 Seiten dick, voller neuer Gräuel. Es gilt wieder: Pensionen und Zulagen für Hilfsbedürftige runter, Steuern rauf. Es gibt fortan auch Steuern auf Steuern. Die Sparmaßnahmen werden zwar jetzt beschlossen, aber stufenweise erst ab 2018 (neues Sparvolumen: 500 Millionen Euro) bis einschließlich 2021 umgesetzt. Tsipras’ Narrativ lautet: Das sei "das letzte Opfer", dass die Griechen bringen müssten. Diesmal wirklich.
Besonders die Pensionisten müssen bluten. Kassierte ein Pensionist der größten Versicherungskasse IKA 2010 noch eine Jahrespension von 30.384,10 Euro, wird er 2019 nur noch eine Pension von 15.520,02 Euro erhalten, wie Experten penibel vorrechnen - brutto. Dies entspricht einem Rückgang von 50 Prozent.
Der Steuerfreibetrag sinkt mit Tsipras’ neuem Sparpaket weiter, von aktuell 8636 Euro auf 5636 Euro (für Steuerpflichtige ohne Kinder). Das gesamte neue Sparvolumen bis 2021: 5,4 Milliarden Euro. Damit hat Tspiras 14 Milliarden Euro seit seiner Machtübernahme im Jänner 2015 eingespart. Doch während Tsipras’ Vorgänger die ersten beiden Kreditprogramme samt Spar- und Reformauflagen nicht abschliessen konnten und politisch auch nicht überlebten, dürft Tsipras das im Juli 2015 mit Brüssel, Berlin und Washington vereinbarte dritte Kreditprogramm wie vereinbart bis August 2018 abschliessen.
Noch länger und mehr sparen
Ferner will die Regierung sogar noch länger und mehr sparen als es das dritte Kreditprogramm als Gegenleistung für Kredite bisher vorsah. Diesmal soll Athen sogar ohne zusätzliche Kredite auskommen. Das Credo: "Wir sparen weiter - auch ohne frische Kredite aus Europa." Das Regierungslager, das nur über eine hauchdünne Mehrheit von 153 der 300 Abgeordneten verfügt, wird geschlossen für das neue Sparpaket stimmen. "Griechenland kehrt nach vielen Jahren einer ernsten Krise zum Wachstum zurück", frohlockt Tsipras. Das griechische BIP soll heuer um 1,8 Prozent wachsen und auch mittelfristig kontinuierlich zulegen.
Nur: Die griechische Wirtschaftsleistung brach von 2008 bis 2013 um kumuliert 27,3 Prozent ein, von 2014 bis 2016 stagnierte sie. Folglich wird das griechische BIP auch 2021 nicht den Vor-Krisen-Stand erreicht haben.
"So lange und so hart hat noch kein Land sparen müssen. Nicht einmal Länder, die Kriege vom Zaun gebrochen haben, wurden so sehr bestraft", polterte Georgios Kavvathas von der Griechischen Vereinigung der Händler und Mittelstandsunternehmen im Athener Parlament. Kavvathas weiß: Die eingebrochene Inlandsnachfrage in Griechenland wird sich bis 2021 mit diesem Sparkurs kaum erholen. Dabei macht der Privatkonsum weiter mehr als 70 Prozent der griechischen Wirtschaftsleistung aus. Daran wird wohl auch der erwartete Supersommer für die griechische Tourismusbranche nur wenig ändern. Die Exporte schwächeln weiter, in Sachen Investitionen aus dem Ausland ist Griechenland EU-Schlusslicht.
Einmalig in Europa: Seit 2013 weisen die hellenischen Privathaushalte eine negative Sparquote auf. Allein 2016 erreichte sie ein Minus von 9,4 Prozent, wie jüngst eine Studie der Industriellenvereinigung SEV ergab. Will heißen: Die Griechen zehren von ihren weiter schrumpfenden Rücklagen, falls sie noch welche haben. Zum Vergleich: Die EU-Länder weisen unisono konstant eine positive Sparquote von rund 10 Prozent auf.