Zum Hauptinhalt springen

Das Dilemma der Besatzung

Von Stephan Grigat

Gastkommentare
Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Nur Israel selbst kann entscheiden, wie es in der Zukunft mit der Situation im Westjordanland umgehen wird.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die Aufrechterhaltung der Besatzung des Westjordanlandes hält die palästinensische Bevölkerung in einer prekären Lage und bringt zahlreiche Gefahren für die israelische Gesellschaft und den israelischen Staat mit sich. Die permanente Diskussion über Möglichkeiten eines wie auch immer gearteten Rückzugs ist daher nur allzu verständlich. Weit über die zionistische Linke hinaus wird die Notwendigkeit gesehen, sich auf die äußeren Bedrohungen wie das iranische Atomprogramm zu konzentrieren, und es gibt zahlreiche weitere Gründe, einen wie auch immer im Einzelnen zu realisierenden Rückzug aus den besetzten Gebieten zu befürworten - und ebenso viele, die dagegen sprechen, in Diskussionen in Europa aber kaum Erwähnung finden. Es fragt sich, inwiefern ein Rückzug durch Israels Feinde nicht zwangsläufig als Ermunterung zur Eskalation ihres Kampfes verstanden werden muss. Und es fragt sich auch, warum sich kaum jemand dafür interessiert, wie es in einem "Staat Palästina" um die Rechte von Frauen und Homosexuellen bestellt wäre und warum die Etablierung eines solchen Staates wie selbstverständlich dazu führen würde, dass dort keine Juden mehr leben dürften, während im israelischen Kernland mehr als eine Million Araber als gleichberechtigte Staatsbürger wohnen. Das zentrale Argument gegen einen Rückzug bleibt der Sicherheitsaspekt: Jeder Befürworter einer Etablierung einer palästinensischen Staatlichkeit muss die Frage beantworten, was geschehen soll, wenn solch ein Schritt nicht die Beendigung des Konflikts bedeutet. Was tun, wenn ein palästinensischer Staat nur als Basis verwendet würde, um den Krieg zur "Befreiung ganz Palästinas" unter besseren Bedingungen fortzuführen - und die bisherigen Erfahrungen mit dem Rückzug aus dem Gazastreifen 2005 lassen genau das am wahrscheinlichsten erscheinen. Soll die israelische Armee, wenn es dann weiterhin Angriffe gibt, wieder im Westjordanland einmarschieren? Würde das nicht mehr Opfer auf beiden Seiten fordern als die heutige Situation?

Die Frage, wie mit der Situation im Westjordanland umzugehen ist, wirft ein klassisches Dilemma auf, und nur die israelische Gesellschaft kann sie beantworten. Eines der Kernprobleme im Nahost-Konflikt liegt nicht in der Hand Israels: Keine Regierung in Jerusalem kann die arabische und islamische Welt, die nach allem, was man weiß und sieht, in ihrer überwiegenden Mehrheit weiterhin nicht bereit ist, Israel als jüdischen Staat auf Dauer zu akzeptieren, dazu zwingen. Dazu bedürfte es fundamentaler Veränderungen in den arabischen und islamischen Gesellschaften.

In fast allen Umfragen bekennen sich gut zwei Drittel der Israelis zu einem weitgehenden Rückzug aus dem Westjordanland, wenn es dafür ein dauerhaftes Abkommen gibt. Nicht die Sehnsucht nach einem Frieden in Sicherheit ist in Israel seit der zweiten Intifada mit mehr als 1000 getöteten Israelis in Mitleidenschaft gezogen worden, sondern der Glaube daran, ihn mit dem palästinensischen Gegenüber auf absehbare Zeit verwirklichen zu können.