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Das Dilemma des Westens

Von David Ignatius

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Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

Eine offene Konfrontation mit Russland im Ukraine-Konflikt birgt enorme Risiken - ein Einfrieren des Status quo ebenso.


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Die Nato scheint in Sachen Ukraine an einem Scheideweg festgefahren, unsicher, ob sie sich auf eine größere Konfrontation mit Russland zubewegen oder den eingefrorenen Konflikt akzeptieren soll. Wenigstens ist man sich darüber einig, dass man in derselben Klemme sitzt: US-Präsident Barack Obama teilt das Zögern der Europäer, die Krise durch Waffenlieferungen an die Ukraine oder durch Verschärfen der Sanktionen gegen Russland eskalieren zu lassen. Die USA unterstützen stillschweigend die Entscheidung der Europäer, den Status quo aufrechtzuerhalten, und knüpfen jede Erleichterung der Sanktionen an die Umsetzung des Minsker Abkommens, auf dem der brüchige Waffenstillstand in der Ukraine beruht.

Die politische Sackgasse wurde von Nato-Befehlshaber Philip Breedlove veranschaulicht, den ich am Sonntag bei einer Konferenz in Brüssel gefragt habe, ob Waffenlieferungen an Kiew stabilisierend oder destabilisierend wirken würden. Breedlove deutete an, dass er dafür ist, zeigte aber auch die Ambivalenz auf: "Könnte das destabilisierend wirken? Ja, aber Untätigkeit könnte auch destabilisierend wirken."

Das Problem ist, wie die gegenwärtige Sanktionspolitik zu einer wahren Deeskalation führen soll, ohne dass sich Russlands Präsident Wladimir Putin schlagartig ändert. Analysten sagen, es könnte Jahre dauern, bis die Sanktionen so sehr greifen, dass sie einen politischen Wandel erzwingen. Abgesehen davon, ob ein Zusammenbruch der russischen Wirtschaft wirklich im Interesse des Westens ist, könnten die Sanktionen gegenteilige Folgen haben: Statt dass sie Putin und seine Freunde dazu bringen, den Kurs zu wechseln, könnten sie die korruptesten und konservativsten Kräfte in Russland stärken.

Die Nato hat gelernt, mit chronisch gewordenen Konflikten an ihren Grenzen zu leben, wie zwischen Georgien und Abchasien und Südossetien und zwischen Armenien und Aserbaidschan. Aber ein chronischer Konflikt mit Russland ist wesentlich gefährlicher. Den Status quo beizubehalten, bedeutet eine zunehmende Isolation und Auslaugung der russischen Wirtschaft, die schon im Abstieg begriffen war, lang bevor Putin die Krim annektierte. Die Russen können mit einer verfallenden Wirtschaft leben - ihre Fähigkeit, Leiden zu ertragen, ist Teil der russischen Identität -, aber dieser Kurs wird wahrscheinlich zu einem Russland führen, das immer gesetzloser ist, immer unbeständiger und immer anfälliger für Gewalt, sowohl national als international.

Das Forum in Brüssel hat noch ein anderes Dilemma der Nato untersucht: Als konventionelle Militärallianz ist sie auf hybride Kriegsführung (wenig traditionelle Militärangriffe, mehr paramilitärische, verdeckte Aktionen), wie Russland sie in der Ukraine betreibt, schlecht vorbereitet. Breedlove räumt das Problem ein und sagt, dass die Nato mehr Geheimdienstoperationen braucht, auch weil die nächste Front für hybride Kriegsführung Cyberattacken sein könnten.

Dank Putin sieht sich die Nato nun einer klaren Bedrohung der europäischen Sicherheit gegenüber. Aber wie die Allianz darauf reagieren soll, ist unklar und müsste viel genauer erörtert werden. Ein chronischer Konflikt kann so gefährlich werden wie ein akuter.

Übersetzung: Hilde Weiss