Ordnung ist subjektiv. Unordnung auch. Und beides nebeneinander führt oft zu Streit. Doch Psychologen, Forscher und Berater sind sich einig: Das muss nicht so sein.
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Die Zahnbürste war schuld. Frau hat sie wieder einmal in den falschen Becher gestellt. Wie oft hat Mann ihr schon gesagt, dass es ihn nervt, wenn die Dinge am falschen Platz stehen. Wenn dort, wo die Zuckerdose sein sollte, sich plötzlich irgendeine Teetasse befindet, die Milchkanne bei den Pfannen landet und der Kaffee unauffindbar ist - nur weil Frau sich die Ordnung nicht merken kann.
Ordnung ist eben relativ. Was dem einen zwanghaft penibel vorkommt, ist für den anderen noch immer nicht ordentlich genug. Das kann dann schon dazu führen, dass eine Ehe wegen einer falsch abgelegten Zahnbürste in die Brüche geht. Oder weil einer der beiden Partner auch nach fünf Jahren Übung immer noch nicht imstande ist, den Geschirrspüler nach allen Regeln der Effizienz einzuräumen. Oder - schlechtes Omen für den bevorstehenden Urlaub - beim Packen des Kofferraums die Kreativität des einen den anderen regelmäßig zur Weißglut bringt.
Keine böse Absicht. Doch Unordnung hat nichts mit böser Absicht zu tun. Meistens jedenfalls. Eher schon mit Gewöhnung. Warum können wir uns aber an fremde (Un-)Ordnungssysteme so schwer gewöhnen? Warum können die einen nicht damit leben, dass Zuckerdosen den Platz wechseln und die anderen sich den angestammten Platz der Zuckerdose nicht merken? Innenarchitekt und Wohnpsychologe Franz Wansch erklärt dieses Phänomen mit einer interessanten Theorie: der sogenannten persönlichen Ordnungszahl. "Das menschliche Gehirn erlaubt maximal neun Gedanken nebeneinander. Nur Spitzenjongleure oder Schachmeister überschauen auf einen Blick neun Dinge und kennen sich damit sofort aus. Es gibt Menschen, die geraten bei einer Anhäufung von mehr als drei, vier oder fünf Gegenständen in Stress und reagieren mit Unlust und Überforderung."
Überschaubares Chaos. Wenn unsere persönliche Ordnungszahl, also jene Zahl von Einheiten, die wir überschauen können, überschritten wird, kommt Chaosgefühl auf. Impulsiv versuchen wir dann eine Ordnung herzustellen, die unseren eigenen Maßstäben entspricht - und gruppieren die Dinge so lange um, bis wir den Überblick wieder haben. Beispiel Küchentisch: Wenn es sich nicht gerade um ein filigranes Bistró-Tischchen handelt, ist ein Küchentisch ziemlich abladeverdächtig. Haben sich erst einmal Teller, Schüsseln, Vasen, Zeitschriften, Kerzen, Post, Handy, Salzstreuer angesammelt, verliert so mancher den Überblick. Und beginnt Häufchen zu machen. So lange, bis die Anzahl an Haufen wieder der eigenen Ordnungszahl entspricht. Dann werden, prophezeit Franz Wansch in seinem Buch "Wohnen planen", selbst 100 verschiedene Gegenstände irgendwie überschaubar.
Erkennen statt zählen. Um die eigene Ordnungszahl zu entdecken, genügt ein einfacher Test: Überprüfen Sie die Anzahl der Buchstaben in einem Wort. Bis zu welcher Anzahl erfassen Sie die Buchstaben auf einen Blick und ab wann müssen Sie nachzählen? Wo liegt Ihre Grenze? Bei "und"? Oder bei "Teppich"? Wie steht´s mit "Donnerstag"? Sobald Sie die Buchstaben zu zählen beginnen, ist ihre Ordnungszahl überschritten - Sie verlieren den Überblick.
Wohnberater empfehlen daher, auch beim Kauf von Schränken und Regalen die eigene Ordnungszahl zu berücksichtigen. Wer sich einen schicken Apothekerschrank mit zwanzig kleinen Laden zulegt, darf sich nicht wundern, wenn die Suche nach den Taschentüchern, Servietten oder Kerzen, die in einer der vielen gleich aussehenden Schubladen untergebracht sind, in ein Memory-Spiel ausartet.
Mit der Zuckerdose verhält es sich möglicherweise ähnlich. Während der eine die Dose regelmäßig in das unterste Fach des linken Küchenregals stellt und erwartet, sie dort auch wieder vorzufinden, ist beim anderen in seinem Ordnungssystem nur das linke Küchenregal abgespeichert. Ob oben, unten, rechts vorne oder links hinten ist einerlei. Wer sich einmal mit der Dynamik von Ordnungssystemen näher beschäftigt hat, wird die vermeintlichen Unordungsmarotten seines Mitbewohners plötzlich völlig anders einschätzen und vielleicht sogar sympathisch finden.
Alles ist subjektiv. Ohnehin ist das Ordnungsempfinden ein subjektives. Was der eine als wohlgeordnete Ansammlung wertvoller Dinge betrachtet, ist für den anderen ein nervtötendes Durcheinander von Gerümpel. Irgendwann kommt allerdings für fast jeden der Punkt, an dem er sich von überflüssigem Ballast trennen will. Bloß: Wenn das so einfach wäre. Was bitte ist überflüssig? Um das zu verdeutlichen, genügt eine kleine Expedition in Ihren Keller. Ganz ehrlich, wann haben Sie das letzte Mal etwas aus Ihrem Kellerabteil gebraucht? Wein, Fahrrad und die Carver ausgenommen. Wissen Sie überhaupt, was in Ihrem Kellerabteil auf seine letzte Bestimmung wartet, oder gehören sie zu den Glücklichen, die sich regelmäßig von Krempel befreien?
Weg mit dem Gerümpel. Der Psychologe und Coach Marco Freiherr von Münchhausen, Autor des Buchs "Entrümpeln mit dem inneren Schweinehund", ist überzeugt: "Wenn Sie Ihren äußeren Lebensraum entrümpeln, befreien Sie auch Ihre Seele von Ballast." So manche Schlafstörung ist mit der Entrümpelung des Kellerabteils gleich mit entsorgt worden. Münchhausen geht aber noch weiter: "Wer es nicht schafft, Ordnung zu halten, der schleppt oft auch seelischen Ballast mit sich herum. Das kann ein ungeklärter Konflikt in der Familie sein oder eine innerlich belastende Schuld." Klingeln bei Ihnen schon die Alarmglocken? Keine Sorge. Nicht hinter jedem unaufgeräumten Schreibtisch verbirgt sich ein Psychogramm. Aber es lohnt sich, einmal darüber nachzudenken, ob sich hinter dem Haufen Papierkram, dem vollgestopften Kleiderschrank, den überquellenden Kellerregalen und den sich stapelnden Schachteln am Dachboden nicht auch eine innere Unordnung versteckt.
Professionelle Hilfe. In die Fänge eines sogenannten Ordnungsberaters muss man sich dann ja immer noch nicht werfen. Das könnte nämlich schlimme Folgen nach sich ziehen. Mit einer an Terror grenzenden Überzeugung werfen diese Feinde des Chaos alles weg, was ihnen unnütz vorkommt. "Weg damit!" lautet ihr Slogan. Plötzlich ist der Schreibtisch zwar aufgeräumt und die tolle Tischplatte kommt endlich zur Geltung, doch zwei Tage später macht sich Bedauern breit. Um den Briefbeschwerer, der zwar echt hässlich, aber eben doch ein Andenken und trotzdem praktisch war. Um das Sparschwein, das nie gefüllt war, aber als einziger im Büro auch bei Windstärke sieben immer noch lächelte.
Wer sich die Ordnungswüter gar nach Hause holt, ist selber schuld, wenn es ihm danach leid tut, auf ihren Rat gehört zu haben: Weg mit dem Fotoalbum aus der Schulzeit, das seit Jahren unbeachtet im Keller modert! Weg mit dem Riesenteddy, der ohnehin nur Platz im Kasten verbraucht! Wer schnell wegwirft, kann auch schnell enttäuscht sein. Entrümpeln braucht Zeit und Gelassenheit.
Nicht überbewerten. Solange Unordnung nicht zu gröberen Konflikten führt oder gar lebensbehindernd wirkt, solange solle man sie nicht überbewerten, meint außerdem der amerikanische Wirtschaftsprofessor und Organisationsforscher Eric Abrahamson. "Vermutlich haben die Menschen das Gefühl, sie haben die Dinge im Griff, wenn ihre unmittelbare Umgebung ordentlich ist. Was Politik, Krieg oder Gewaltverbrechen betrifft, können sie nichts ausrichten. Aber sie können ihren Schreibtisch in Ordnung halten." Die zentrale Botschaft der weltweit predigenden Organisationsberater, Ordnung spare Zeit, hält Abrahamson schlichtweg für falsch. Und beweist das gleich in einer repräsentativen Studie: "Ordentliche Menschen suchen genauso oft und genauso lange ihre Wohnungsschlüssel oder Brillen wie schlampige."
Warum unordentliche Menschen in Wirklichkeit glücklicher und effizienter sind als überpe-
nible, beschreibt der Professor für Organisation in seinem Buch "Das perfekte Chaos", das er gemeinsam mit dem Wirtschaftsjournalisten David Freeman verfasst hat. "Menschen, die einen Artikel schreiben, haben oft viele andere Artikel vor sich liegen. Dadurch sehen sie verschiedene Zugänge parallel. Man sieht Dinge gleichzeitig, die durch Ordnung getrennt wären." Das haben die Meister der Unordnung ja schon immer geahnt und auf einen einfachen Nenner gebracht: Unordnung fördert die Kreativität.