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Von Autokraten, Fürsten und anderen Alphamännern: eine Theater-Rundschau von Sophokles bis Dürrenmatt.
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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Bestürzung und Ratlosigkeit ausgelöst. Ratlosigkeit vor allem darüber, dass es so einen wie Wladimir Putin in der politischen Welt von heute tatsächlich noch gibt. Eiskalte Machtpolitik und brennheiße Gewaltbereitschaft fügen sich nicht so recht zu unserem Bild vom modernen europäischen Menschen, der Konflikte durch Gesprächsbereitschaft und Fairness löst. Illusionslose Historiker und Psychologen wissen es allerdings besser und Theaterfreunde müssten es eigentlich auch wissen.
Der tragische Onkel
Denn von der Glanzzeit der antiken Tragödie im 5. Jahrhundert v.Chr. bis in die jüngste Vergangenheit haben Dramatiker auf europäischen Bühnen oft genug das Drama des mächtigen Mannes abgehandelt, und es gibt keinen hinreichenden Grund für die Annahme, dass sich die conditio humana in den letzten fünfzig Jahren prinzipiell geändert hätte. Der Wille zur Macht ist leider keine bloße Spekulation von Friedrich Nietzsche, und es ist vielleicht erhellend, einige theatralische Darstellungsvarianten in Erinnerung zu rufen.
Da ist zum Beispiel König Kreon, männliche Hauptfigur in "Antigone" von Sophokles (um 442 v. Chr.). Er hat sich nicht um die Macht in Theben gerissen. Kreon ist eigentlich nur der Bruder des Ex-Königs Ödipus, aber in dieser unsoliden Verwandtschaft wird selbst eine familiäre Nebenrolle zum Verhängnis. Um Kreons Situation zu verstehen, muss man in die Vorgeschichte zurückblicken: Ohne es zu wissen, hat Ödipus seinen Vater Laios erschlagen und mit seiner Mutter Iokaste vier Kinder gezeugt: Polyneikes, Eteokles, Ismene und Antigone. Als diese schicksalhafte Katastrophe nicht mehr zu leugnen ist, blendet sich Ödipus und Iokaste erhängt sich.
Angesichts ihrer belasteten Familiengeschichte sollte man nun meinen, die Ödipus-Söhne hätten Besseres zu tun, als sich um die Macht in Theben zu streiten. Weit gefehlt! Sie finden zwar einen Kompromiss: Jeder regiert immer nur ein Jahr und gibt dann die Herrschaft an den Bruder ab. Eteokles findet aber in seinem Regierungsjahr so viel Geschmack an der Macht, dass er die Vereinbarung nicht einhält.
Polyneikes wiederum erträgt es auch nicht, auf seinen Herrschaftsanspruch zu verzichten. Die Macht ist sein Ziel und der Krieg ist sein Weg. Er verbündet sich mit Thebens Gegnern und greift die eigene Stadt an. Die Brüder sterben im Zweikampf und hinterlassen einen politischen Scherbenhaufen.
Wer muss ihn aufräumen? Kreon, der eigentlich nur den netten Onkel spielen wollte. Um das Chaos in den Griff zu bekommen, erlässt er harte Gesetze. Polyneikes, der Verräter, der sich mit Thebens Feinden verbündet hat, darf nicht bestattet werden. Wer dieses Gesetz ignoriert, dem droht die Todesstrafe. Nun ist es aber ausgerechnet Kreons widerständige Nichte Antigone, die den Befehl des königlichen Onkels missachtet, aus Bruderliebe und aus Respekt vor dem göttlichen Gesetz.
Kreon meint subjektiv, im Interesse der Staatsordnung das politisch Richtige zu tun, ebenso wie Antigone redlich ihrem sozialen Gewissen folgt. Der dadurch in Gang gesetzte Konflikt zwischen dem Vertreter der Staatsräson und der Gesinnungsethikerin setzt die Familienkatastrophe fort, und die Folgen sind wieder einmal tödlich. Dennoch ist Kreon kein eiskalter, machtgeiler Schurke, sondern ein tragischer Held, der, zur Macht gelangt, den falschen Weg eingeschlagen hat und seinen Irrtum zu spät erkennt.
Schurken an der Macht
Machtgier ist nicht selten der Stoff, aus dem William Shakespeare seine historischen Tragödien geschaffen hat. "Macbeth" ist ein Beispiel, "König Richard III." (1593) ein etwas anderes. Während Macbeth auf seinem verbrecherischen Weg zum Thron von ambivalenten Gefühlen und moralischen Zweifeln belästigt wird, ist Richard völlig gewissensbefreit. Macbeth würde möglicherweise von seinem Vorhaben, König Duncan zu ermorden, ablassen, würde ihn nicht seine Frau anstacheln, indem sie seine männliche Eitelkeit reizt. Lady Macbeth ist mit ihrer Traust-dich-eh-nicht-du-kleiner-Feigling-Strategie ziemlich erfolgreich.
Richard III. hingegen ist der Prototyp des skrupellosen, machtgeilen Karrieristen ohne jede Empathie und Moral. Er schreckt vor keinem Verbrechen zurück, und das Leid seiner Opfer berührt ihn nicht, der Zweck heiligt jedes Mittel. Schon sein Kampf um die Königskrone hinterlässt mehrere Leichen, und als er sein Ziel erreicht hat, setzt Richard seine blutige Politik fort. Empörung und Verachtung, die er für seine Untaten auf sich zieht, berühren ihn nicht. Er ist das moralische Scheusal schlechthin.
William Shakespeare - auch in dieser Hinsicht ein Pionier der Moderne - bietet zwar eine psychologische Erklärung für Richards unfassbare Brutalität an, man könnte sie als Kompensation für die angeborene körperliche Missbildung interpretieren, als grausame Rache für erlittene Zurückweisungen. Dennoch sprengt das Ausmaß an krimineller Energie, das Richard verkörpert, die Grenzen psychologischer Fassbarkeit. Dieses Ungeheuer ist nur durch eines zu stoppen: die militärische Überlegenheit der Adelsopposition.
Ein anderer Aspekt, psychologisch nicht weniger interessant, ist die Anziehungskraft, die Richard zumindest phasenweise auf Menschen ausübt, die ihm persönlich begegnen. Auf dieses Phänomen, die "Führerfaszination", im Fall von Richard wohl auch die Faszination des teuflisch Bösen, wird noch zurückzukommen sein.
Wie man herrscht
Spricht man über die Amoral und Herzenskälte von Shakespeares König Richard, liegt es nahe, zumindest kurz auf Niccolò Machiavelli hinzuweisen, dessen Thesen zu Herrschaft und Moral im zeitlichen Vorfeld liegen. "Il Principe" erschien 1532. Machiavelli spricht offen über Egozentrismus und Rücksichtslosigkeit des politischen Handelns, legitimiert sie aber im Interesse der Macht, die höchster Zweck jeder Politik sei. Machterhaltung und Machtausdehnung rechtfertigen alles: Betrug, Lüge, Intrige, Mord, Krieg.
Großzügigkeit gegen das Volk und soziale Hilfe für die Armen schließt Machiavelli zwar nicht aus. Sie dienen aber nur dazu, die dummen Untertanen, die sittlich nicht weniger verkommen sind als ihre Herrscher, emotional zu binden. "Man kann von den Menschen im Allgemeinen sagen, dass sie undankbar, wankelmütig, unaufrichtig, heuchlerisch, furchtsam und habgierig sind", schreibt Machiavelli. Wenn sie sich tugendhaft zeigen, dann geschehe dies in der Regel nicht aus moralischem Antrieb, sondern aus Furcht und Berechnung. Die brauchbarste Herrschaftsstrategie sei daher die von Zuckerbrot und Peitsche.
Die absolute Fürstenmacht wurde zum europäischen Herrschaftssystem der Neuzeit, die Ständehierarchie zum Kritikobjekt aufgeklärter Staatsphilosophen und die moralische Berechtigung des Tyrannenmordes spätestens am Vorabend der Französischen Revolution salonfähig. Auch die Schaubühne des 18. Jahrhunderts handelte das Thema Fürstenmacht ab, vor allem in Form des "bürgerlichen Trauerspiels". Das herausragende Meisterwerk in diesem Genre ist Gotthold Ephraim Lessings "Emilia Galotti".
Prinz Gonzaga, die Fürstenfigur, ist ein junger Mann, der nicht durch einen Kampf, sondern durch die Erbfolge an die Macht gekommen ist, eine Macht, die ihn gar nicht sonderlich interessiert. Seine Aufmerksamkeit gilt der Kunst, seine Leidenschaft der weiblichen Schönheit, aktuell Emilia Galotti, der Tochter eines bürgerlichen Offiziers. Eine legitime Verbindung ist aufgrund der Standesgrenzen so gut wie unmöglich. Würde sich Emilia auf den Prinzen, der ihr gefällt, einlassen, bliebe ihr bestenfalls die problematische Rolle der Mätresse, was für Emilias tugendhafte bürgerliche Familie ein absolutes Tabu ist.
Die Schuld des jungen Fürsten besteht natürlich nicht darin, Emilia zu begehren. Sie besteht darin, dass er seine soziale Rolle ignoriert. Er ist eben nicht nur begehrender und vielleicht sogar liebender Mann, er ist der Landesfürst. Die daran gebundenen Machtmittel setzt er zwar nicht selbst ein, aber er lässt den eigentlichen Bösewicht, den Kammerherrn Marinelli, gewähren und verschließt die Augen vor dessen zynischen Methoden.
Goethes Kolonialherr
Letztlich wird die junge Frau, aufgerieben zwischen Fürstenwillkür und väterlicher Bürgertugend, zum Opfer patriarchaler Machtstrukturen. Emotionalität, Spontaneität und Tabubruch - bei einem Privatmann wie Johann Wolfgang Goethes jungem Werther, einem Zeitgenossen Gonzagas, mögen sie verständlich sein, partiell sogar sympathisch; beim Kindskopf auf dem Fürstenthron ist mangelnde Selbstkontrolle gemeingefährlich.
Apropos Goethe. Sein Faust beginnt als frustrierter Gelehrter, der sich darüber beklagt, dass er weder "Gut noch Geld / Noch Ehr und Herrlichkeit der Welt" habe. Dieses Nichts, aufgebessert durch das Hilfsangebot des Teufels, reicht aber auch bei ihm, um eine junge Frau völlig zu ruinieren. Auf den weiteren Stationen seines Wegs, dargestellt im zweiten Teil der Tragödie, gerät der ehemalige Universitätsprofessor in die große Welt der Politik und wäre bald ministrabel. (Auch das soll bis heute vorkommen.) An den Macht- und Repräsentationsspielchen des dekadenten Kaiserhofs findet Faust zwar wenig Geschmack, aber die Position, auf der er im fünften und letzten Akt seinen lang ersehnten "schönsten Augenblick" endlich erlebt, wäre ohne umfassende Herrschaftsbasis unhaltbar.
Dabei ist es nicht die Macht an sich, die Faust lockt, sondern die Macht als Voraussetzung für tätige Gestaltung. Er hat - übrigens durch Beteiligung an einem Krieg - einen weitläufigen Landstrich am Meer in seinen Besitz gebracht, den er nach eigenen Vorstellungen kolonisieren lässt. Dämme und Häfen werden errichtet, es wird gerodet und gepflanzt, gebaut und Handel getrieben. Aus dem ehemaligen Stubengelehrten ist ein weltgewandter Kolonialherr geworden, ökonomisch erfolgreich, politisch souverän.
Seine Vision hat eine durchaus emanzipatorische Grundlage. Er möchte, wie er sagt, "mit freiem Volk auf freiem Grunde stehen", will Haupt einer Gesellschaft sein, in der Tätigkeit und Fleiß, Unternehmergeist und technische Kompetenz ein solides Gemeinwesen garantieren. Max Weber würde von protestantischer Leistungsethik sprechen.
Die Kehrseite ist allerdings die Rücksichtslosigkeit, mit der Faust seine Pläne umsetzt. Wer seinem Modernisierungsprogramm im Weg steht, bekommt ein Problem. Philemon und Baucis, ein altes Ehepaar, das seine Hütte in der Heimat nicht verlassen will und dadurch ein Bauprojekt behindert, fällt samt Hütte einem Brandanschlag zum Opfer. Faust macht sich die Hände natürlich nicht selbst schmutzig. Dafür hat er ja Mephisto, seinen Mann fürs Grobe.
Als Musterbeispiel des entschlossenen, machtbewussten Tatmenschen erlebte die Goethe-Zeit Napoleon Bonaparte. Nach dem humanitären Fiasko der Jakobinerdiktatur hatte er die politischen Aufräumungsarbeiten übernommen, als Kaiser der Franzosen und überlegener Kriegsherr unterwarf er Europa jahrelang seiner Kontrolle. Das militärisch-politische Ausnahmetalent Napoleon polarisierte die Zeitgenossen: Abscheu und Hass auf der einen Seite, Bewunderung und Gefolgschaftstreue auf der anderen.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel erlag dem Phänomen der schon erwähnten Führerfaszination. Nach der verheerenden Niederlage der preußischen Armee im Jahr 1806 schrieb er über Napoleons Einzug in Jena: "Den Kaiser - diese Weltseele - sah ich durch die Stadt (...) hinausreiten. Es ist in der Tat eine wundersame Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier, auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht."
Zwei konträre Fürsten
Goethe äußerte sich nachdenklicher, wenn er auf "dämonische" Persönlichkeiten wie Napoleon zu sprechen kam: "Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, (...) Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen."

Die Titelfigur in Franz Grillparzers Tragödie "König Ottokars Glück und Ende" (1823) ist eher Napoleon nachgebildet als dem böhmischen König aus dem 13. Jahrhundert. Ein vielversprechender Herrscher wird zum Opfer seiner Selbstüberschätzung und Selbstherrlichkeit, die ihn dazu verleitet, moralische Bedenken ebenso präpotent beiseitezuschieben wie staatsrechtliche Vereinbarungen. Ottokar nimmt in seiner machtorientierten Politik auf die Gefühle seiner Gattin Margarete ebenso wenig Rücksicht wie auf die Lehensordnung des Reichs.
Die positive Gegenfigur zu Ottokar ist in Grillparzers Drama Rudolf I. von Habsburg, auch er keine Nachbildung des historischen Rudolf, sondern das mehr oder weniger tragfähige Ideal des guten Kaisers im Sinne der josephinischen Herrschaftsidee: Alles für das Volk, nichts durch das Volk! Grillparzer misstraute der Macht, auch der plebejisch-demokratischen, ihr ganz besonders. Und leider hat er recht behalten mit seinen Kassandra-Versen: "Der Weg der neuern Bildung geht / Von Humanität / Durch Nationalität / Zur Bestialität".
Der Mut des Einzelnen
Über die Folgen bestialischer, totalitärer Herrschaftsformen für die Arbeit des Dramatikers dachte Friedrich Dürrenmatt in den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach. Er kam zu dem Ergebnis, dass es nicht mehr möglich sei, Tragödien zu schreiben, wie Friedrich Schiller sie noch schreiben konnte. Napoleon, meinte er, sei vielleicht "der letzte Held im alten Sinne" gewesen. "Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen. Ihre Macht ist so riesenhaft, daß sie selber nur noch zufällige, äußere Erscheinungsformen dieser Macht sind."
Der Staat sei als Herrschaftsapparat unüberschaubar und anonym geworden. Den Fall Antigone, so Dürrenmatt, erledigen heute Kreons Sekretäre. Die Tragödie "setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus", aber in der "Wurstelei unseres Jahrhunderts" gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. "Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt."
Das ist eine diskutierbare Ansicht, und angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine möchte man Dürrenmatt widersprechen. Liegen Schuld und Verantwortung in diesem Fall nicht doch beim mächtigsten Staatsmann? Genügt nicht ein einziger Satz von Putin, um den Schrecken zu beenden? Oder würden ihm die teils bekannten, teils anonymen Vasallen solch eine beherzte Großtat nicht verzeihen? Würde er damit das Ende seiner eigenen Herrschaft besiegeln?
Wenn ja, dann wäre er gerade dadurch jener "mutige Mensch", der laut Dürrenmatt immer noch und immer wieder auf Bühnen gezeigt werden kann. Dieser "mutige Mensch" trifft eine moralische Entscheidung, oft eine einsame, vielleicht auch vergebliche, aber er steht da und kann nicht anders.
Seien wir ehrlich: Die Chance, dass Wladimir Putin in dieser Gestalt doch noch zum tragischen Helden künftiger Dramen werden könnte, ist deprimierend gering.
Christian Schacherreiter, geboren 1954 in Linz, ist Literaturwissenschafter, Kulturkritiker und Autor. Zuletzt erschienen: "Das Liebesleben der Stachelschweine" (Roman, Otto Müller Verlag, Salzburg 2022, 264 Seiten, 24,- Euro).