Mit dem Versprechen der Armutsbekämpfung steht Oppositionschef Alexis Tsipras vor dem Wahlsieg.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Athen. Dimitris Efstathiadis, 53, Witwer, kantiges Gesicht, sonnengegerbte Haut, dicker Pullover, schlürft eine Suppe. Auch sein Sohn Kostas und seine Schwägerin Julia nehmen die Abendmahlzeit ein. Die Schwiegermutter setzt sich auch dazu.
Es ist kalt an diesem Abend in der kleinen Wohnung im Untergeschoss des ansonsten unbewohnten Hauses im nordwestlichen Athener Arbeitervorort Ano Liosia. Und hier drinnen ist es fast dunkel. Nur drei Wachskerzen brennen auf dem kleinen Küchentisch. Das muss reichen, auch an diesem Abend.
Denn die Familie Efstathiadis hat kein Geld. Schon länger kann sie die Stromrechnung nicht mehr bezahlen. Der letzte Bescheid liegt für den Besucher auf dem Tisch. "Zu zahlen bis zum 13. Jänner", steht fettgedruckt darauf. Doch auch diese Frist, sie ist verstrichen. Wieder einmal.
In der Armutsfalle
Dimitris Efstathiadis, von Beruf Bauarbeiter, bleibt keine andere Wahl. Er ist arbeitslos, sein Sohn noch Schüler, die Schwiegermutter Hausfrau. Nur die 22-jährige Julia hat als Friseurin ein mageres Einkommen. Mit ihrem Mini-Gehalt von 380 Euro pro Monat kommt die Familie kaum über die Runden. Und eine Grundsicherung? Sie existiert in Griechenland nicht.
So kam es, wie es kommen musste. Im Oktober seien zwei Männer der halbstaatlichen Elektrizitätsgesellschaft DEH angerückt, erzählt Dimitris. Erst seien sie auf den neun Meter hohen Strommast vor dem Haus der Familie gestiegen, erinnert er sich. Leise sagt er: "Kurzerhand haben sie die Stromleitung gekappt." Seither brennen nachts in der kleinen Wohnung in Ano Liosia die Kerzen. Griechenland ganz unten.
Die Familie Efstathiadis ist in Griechenland, dem Ursprungsland und Epizentrum der Euro-Krise, kein Einzelfall. Im Gegenteil. Mehr als 300.000 griechische Familien leben mittlerweile ohne Strom. "Gehst du am Sonntag wählen?" Dimitris Efstathiadis nickt. "Und wem gibt du deine Stimme?" Seine lapidare Antwort: "Syriza. Wir wollen einen Wechsel sehen."
So denkt derweil das Gros der Griechen. Im Endspurt vor den wegweisenden Parlamentsneuwahlen in Athen am Sonntag sind sich die Beobachter einig: Das "Bündnis der Radikalen Linken" (Syriza) unter Europas Schreckgespenst Alexis Tsipras, vor dem Ausbruch der desaströsen Griechenland-Krise noch als Kleinstpartei versprengter Salon-Bolschewisten verspottet, steht kurz davor, endgültig den Polit-Olymp in Griechenland zu erklimmen. Hilfsbedürftige Familien wie die Familie Efstathiadis will die Tsipras-Partei mit Gratisstrom versorgen. Die "Bekämpfung der humanitären Krise" in Hellas sei für Syriza "oberste Priorität", ist aus der Parteizentrale am Athener Koumoundourou-Platz gebetsmühlenartig zu hören.
Die Linkspartei will einen Schuldenschnitt, das sofortige Ende des rigiden Austeritätskurses, einen Stopp der Privatisierungen. Die Syriza-Strategie hat offenbar Erfolg: Einen faktisch uneinholbaren Vorsprung von Syriza stellen die Demoskopen des renommierten Athener Meinungsforschungsinstituts Public Issue fest. Tsipras und seine Gefolgsleute haben mit 35,5 Prozent der Stimmen die Nase vor der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia unter Premier Antonis Samaras, die 30,5 Prozent auf sich vereint. Es folgen die Kommunisten (7 Prozent), die linksliberale To Potami (7 Prozent), die rechtsradikale Goldene Morgenröte (6,5 Prozent) sowie die langjährige Regierungspartei Pasok (5 Prozent). Der neuen Partei Kidiso von Ex-Premier Georgios Papandreou gibt Public Issue mit zwei Prozent keine Chance auf einen Einzug ins Athener Parlament.
Applaus für Tsipras
Derweil tourt Syriza-Chef Tsipras im Eiltempo durchs ganze Land. Für Tsipras, den 40 Jahre alten Wahlfavoriten in Athen, heißt es in diesen Tagen nur: Hände schütteln, Reden halten - und mit sichtlicher Genugtuung den brandenden Applaus genießen.
In die Sporthalle "Palais de Sport" sind mehr als 5000 Syriza-Anhänger gekommen, um Tsipras zu sehen. Im Publikum befinden sich von der Samaras-Regierung entlassene Putzfrauen, Schulwächter und Journalisten des im Juni 2013 handstreichartig abgeschafften Staatssenders ERT, aber auch viele junge Griechen sind darunter. Sie schwenken Syriza-Fahnen, sie skandieren Syriza-Parolen.
Unverhohlen fordert Tsipras von den knapp zehn Millionen stimmberechtigten Griechen: "Die absolute Mehrheit der Mandate, um alleine regieren zu können." So werde er "die Hände frei haben", um "harte Verhandlungen" mit Griechenlands öffentlicher Gläubiger-Troika aus EU, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) zu führen.
Paradox: Zwar hat die Troika mittlerweile fast 240 Milliarden Euro an Hellas überwiesen, dem Ursprungsland der Euro-Krise, das sich Anfang 2010 in den faktischen Staatsbankrott manövriert hatte. So konnte sich das ewige Euro-Sorgenland seither über Wasser halten. Dennoch ist die Troika hierzulande verhasst. Der Grund: die im Gegenzug für die Troika-Kredite auferlegten harten Spar- und Reformauflagen. Es könnte durchaus sein, dass Syriza die absolute Mehrheit erringt. Denn der Erstplatzierte kassiert einen 50-Mandate-Bonus im 300 Sitze zählenden Athener Parlament. Ob er 25 oder 45 Prozent der Stimmen auf sich vereint, spielt dabei keine Rolle. So sieht es das griechische Wahlrecht vor.
Samaras gibt nicht auf
Den Prognosen der Auguren zum Trotz: Tsipras’ Widersacher Samaras gibt nicht auf. Der Regierungschef will mit seinem Programm "Griechenland 2021" (200 Jahre nach der Griechischen Revolution gegen die Osmanische Herrschaft) punkten. Samaras verspricht die Fortsetzung des Reformkurses, die Schaffung von 770.000 Arbeitsplätzen, Steuersenkungen, stufenweise Pensionserhöhungen. Neue Sparmaßnahmen seien für Hellas nicht mehr notwendig, betont auch Samaras nun plötzlich demonstrativ. Deutlicher kann er es nicht sagen: Die Troika ist in Griechenland gescheitert.