Zum Hauptinhalt springen

Das Eine-Million-Jahre-Problem

Von Ronald Schönhuber

Europaarchiv

Deutschland steht bei der Endlager-Suche | wieder am Anfang, Frankreich ist da weiter.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Straßburg. Eines ist für Winfried Kretschmann unzweifelhaft klar. "Irgendwo muss das Zeugs ja hin", sagt der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der als erster Grüner an der Spitze eines deutschen Bundeslandes steht. Doch wohin - das ist so unklar wie selten zuvor. Mehr als 30 Jahre nach der vorläufigen Festlegung auf den niedersächsischen Salzstock Gorleben steht die Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfälle in Deutschland wieder am Anfang. Gorleben, an dessen Eignung zuletzt starke Zweifel aufgekommen waren, soll zwar weiter erkundet und geprüft werden, Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) kann sich aber auch jeden anderen geologisch geeigneten Platz als zukünftigen Standort für ein Atom-Endlager vorstellen. Am Beginn der Suche, für die bis zum Sommer ein Verfahren festgelegt werden soll, muss nach Röttgens Vorstellung eine "weiße Landkarte stehen". "Es darf keine Tabus geben", sagt der Umweltminister.

Über derartige Grundsatzprobleme ist man in Frankreich schon längst hinausgekommen. Wenn am Mittwoch der zwölfte und letzte Castor-Transport mit hochradioaktivem Atommüll aus der Wiederaufbereitungsanlage La Hague in Richtung Gorleben rollt, um dort zwischengelagert zu werden, wird der Zug auch weniger als 40 Kilometer an dem kleinen lothringischen Ort Bure vorbeifahren - da, wo eines Tages alle Abfälle aus den 58 französischen Atomreaktoren landen sollen. Und im Gegensatz zum auch als Zwischenlager dienenden Gorleben, dessen Erkundung aufgrund des breiten Protests fast ein Jahrzehnt stillstand, treibt Frankreich sein Endlager-Projekt mit Hochdruck voran.

Begonnen wurden die Bohrarbeiten in Bure 1994. Sechs Jahre später wurde in rund 500 Meter Tiefe eine Art Labor eingerichtet. In einem 500 Meter langen und 3,5 Meter breiten Tunnel untersuchen Geologen, Chemiker und Physiker, ob die etwa 130 Meter dicke Lehmschicht für die Einlagerung von hochradioaktiven Abfällen geeignet ist. Auf experimentelle Weise wurde bereits ermittelt, mit welcher Geschwindigkeit sich radioaktive Elemente in der Lehmschicht fortbewegen. Vor allem wurde aber geprüft, wie die Umgebung auf die Hitze, die der Atommüll abstrahlt, reagiert. Denn auch ein einziges isoliertes Problem unter Tage kann die Eignung eines Standorts als Endlager in Frage stellen. Neben der nicht ausschließbaren Möglichkeit eines Wassereinbruchs waren die Zweifel an Gorleben vor allem deshalb gewachsen, weil unter Tage Gase entdeckt worden waren, die sich möglicherweise schlecht mit der Hitze des Mülls vertragen.

Kilometerweit unter Tage

Die bisherigen Ergebnisse in Bure seien aber ermutigend, sagt Marc-Antoine Martin, der Sprecher der französischen Atommüll-Entsorgungsagentur (Andra). Den Berechnungen zufolge könne hier Atommüll für eine Dauer von bis zu einer Million Jahre gelagert werden. "Dies ist zehn Mal mehr als vorgeschrieben", sagt Martin. Denn innerhalb von 100.000 Jahren sei die Radioaktivität bereits abgeklungen.

Lagern will man in Bure primär mittel- und hochradioaktive Abfälle, darunter Spaltmaterial aus abgebrannten Kernbrennstäben. Dieses Material wird bei der Aufbereitung der Brennstäbe von den wiederverwendbaren Bestandteilen Uran und Plutonium getrennt, in Glas eingeschweißt und dann in 40 Meter langen Metallrohren verpackt. Für die Lagerung dieser Rohre sollen laut Martin unterirdische Gänge mit einer Gesamtlänge von 200 Kilometern gegraben werden. Die Behälter dürfen wegen der ausstrahlenden Wärme nämlich nicht zu dicht aneinander gelagert werden.

Nach bisheriger Planung könnte der erste Atommüll ab 2025 in Bure landen. Zuvor ist 2013 eine öffentliche Anhörung geplant. Erst anschließend will die Andra einen Antrag auf Bau des Endlagers stellen. Das letzte Wort habe aber die Regierung, betont Martin. "Noch ist nichts entschieden." Gegner des Projekts bezweifeln dies freilich. "Das Lager wird in Bure gebaut - oder gar nicht", meint Sophia Majnoni, die bei Greenpeace Frankreich für Atompolitik zuständig ist. Schon in das "Forschungslabor" mit seinen rund 320 Mitarbeitern seien "Millionen von Euro" investiert worden. Außerdem sei Bure der einzige Standort in Frankreich, der untersucht werde. Auch die Zeit drängt mittlerweile schon. Bis 2015 müssen die EU-Länder laut einer im Juli beschlossenen Richtlinie detailliert übermitteln, wie und wo sie Endlagerstätten bauen wollen.

Finnland als Vorreiter

"Frankreich braucht das Endlager und wird es in Bure errichten", glaubt auch der Bürgermeister des naheliegenden Dorfes Bonnet, Jean-Pierre Remmerlé. Mit den bereits investierten Geldern seien Tatsachen geschaffen worden. Remmerlé gehört zu den wenigen Regionalpolitikern, die sich in der ländlichen Gegend gegen das Projekt wehren. Allein für Infrastrukturmaßnahmen - etwa den Bau von extra breiten Straßen für den Transport von Castor-Behältern - seien bereits gut 30 Millionen Euro ausgegeben worden, sagt der Bürgermeister. Diese Summen sind freilich nichts im Vergleich zu dem, was das Endlager kosten wird. Zunächst war von 15 Milliarden Euro die Rede, doch mittlerweile ließ die Andra wissen, dass neue Sicherheitsnormen die Kosten in die Höhe treiben könnten - auf bis zu 35 Milliarden Euro.

Das weltweit erste Endlager für hochradioaktiven Müll wird Bure aber trotz des offensichtlichen Einsatzes wohl nicht werden. Auf der finnischen Insel Olkiluoto soll bereits ab 2020 Atomabfall für immer im 800 Millionen Jahre alten Granitgestein verschwinden. Protest gibt es hier noch weniger als in Frankreich. Eurajoki, die Gemeinde zu der Olkiluoto gehört, hat sich sogar aktiv um den Endlagerstandort beworben. Die durch das Projekt eklatant steigende Immobiliensteuer soll dem kleinen Ort eine sorgenfreie Zukunft ermöglichen.