Er verstand es, Weltläufigkeit und Bodenständigkeit zusammenzudenken - und sah sich als Sachwalter der abendländischen Philosophie, die er gegen den Strich las: Zum 125. Geburtstag von Martin Heidegger.
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An Martin Heidegger, dem neben Nietzsche und Kant weltweit bekanntesten deutschen Philosophen, scheiden sich noch immer die Geister, was weniger mit seiner Philosophie zu tun hat, die mittlerweile auch von seinen Gegnern, unter Protest, anerkannt wird, sondern an einem politischen Fehltritt hängt, für den der Philosoph, nachdem er sich weigerte, öffentlich das Büßerhemd anzulegen, konsequent abgestraft wurde. Heidegger ließ sich bekanntlich mit dem Nationalsozialismus ein, und er tat dies, wie es Philosophen zu tun pflegen, wenn sie sich in die Niederungen der Politik begeben: hochfahrend, rechthaberisch und durchdrungen vom wohltuenden Bewusstsein, es besser zu wissen als andere.
Martin Heidegger wird am 26. September 1889 in Meßkirch am Südrand der Schwäbischen Alb geboren. Die Eltern sind einfache Leute, der Vater ist Küfermeister und betätigt sich als Mesner. Frühzeitig wird die Begabung des kleinen Martin erkannt: Dank eines Stipendiums der katholischen Kirche, von der er sich später lossagt, kann er das Erzbischöfliche Gymnasialkonvikt in Konstanz besuchen. Sein Abitur legt Heidegger 1909 am Berthold-Gymnasium in Freiburg ab. Er studiert zunächst Theologie, dann Philosophie, Geistes- und Naturwissenschaften. 1913 promoviert er, zwei Jahre später bereits wird er habilitiert.
1927: "Sein und Zeit"
Eine außergewöhnliche Karriere zeichnet sich ab: Heidegger, ein kleingewachsener Mann mit großen Fähigkeiten, ragt aus dem gewöhnlichen Lehrkörper der Philosophie heraus. 1923 wird er auf ein Extraordinariat an die Universität Marburg berufen, wo er bis 1928 bleibt - es ist dies der einzige längere Aufenthalt außerhalb des Bezirks seiner näheren Heimat. 1927 erscheint Heideggers berühmtestes Buch, "Sein und Zeit", das eine Diskussion auslöst, die über philosophische Fachkreise weit hinausreicht. Ein Jahr später ernennt man ihn als Nachfolger des allseits geschätzten Edmund Husserl zum Ordinarius für Philosophie an der Universität Freiburg.
In einer Zeit, in der Krisenstimmung und Existenzängste an der Tagesordnung sind, findet Heideggers Annäherung an den Nationalsozialismus statt. Im April 1933 wird er zum Rektor der Universität Freiburg gewählt und übernimmt damit ein Amt, das er ein Jahr später bereits wieder niederlegt. Die Antrittsrede des neuen Rektors steht unter dem Thema "Die Selbstbehauptung der deutschen Universität", was sich unverfänglicher anhört, als es ist, denn von Selbstbehauptung kann inzwischen keine Rede mehr sein. Im Jargon der herrschenden Ideologie beschwört Heidegger eine nunmehr auch im Geistigen notwendige Führerschaft, für die er selbst maßgeblich mit eintreten will . . .
Heideggers Distanzierung vom Nationalsozialismus vollzieht sich angeblich früh, wird jedoch, sehr zum Missvergnügen seiner Verehrer, nie recht öffentlich gemacht, was auch daran liegen kann, dass sie - diese Vermutung legen zumindest die erst spät, zum Teil erst heuer zugänglich gemachten "Schwarzen Hefte" nahe - womöglich gar nicht stattgefunden hat. Es kommt, wie es kommen muss: Nach Kriegsende erhält Heidegger Lehrverbot, das bis zum Jahre 1951 gilt - danach darf er wieder Vorlesungen halten. Der Makel jedoch, der auf seiner, durch einige charakterliche Schäbigkeiten zusätzlich verunzierten Biographie liegt, bleibt.
Trotzdem oder gerade deswegen ist Heideggers Ruhm kontinuierlich gewachsen. Der Philosoph, schon immer ein immens fleißiger Geistesarbeiter, lebt zurückgezogen in Freiburg und Todtnauberg. Die Spätphilosophie, die er entwickelt, lässt das Geheimnis-volle und Vieldeutige seines Werks nur noch stärker hervortreten. Während man in Deutschland noch mit seiner Vergangenheit beschäftigt ist, hat im Ausland längst eine Renaissance des Heideggerschen Denkens eingesetzt: Bewunderer melden sich zu Wort, die sich für seine Biographie wenig, für seine Philosophie jedoch um so mehr interessieren.
Als Heidegger am 26. Mai 1976 in Freiburg stirbt, hat sich ein merkwürdiger Wiederanschluss an seinen früheren Ruhm vollzogen, dem nun sogar, zusätzlich, internationale Beglaubigung zuteil geworden ist.
Heidegger verstand es, Weltläufigkeit und Bodenständigkeit zusammenzudenken. Er sah sich als Sachwalter der abendländischen Philosophie, die er neu entdeckte und gegen den Strich las. Aus der Tradition auch bezog er die Maßstäbe seiner Kritik an der Moderne, die er grundsätzlich in Zweifel zog. Dabei hatte er den Mut zur Verständlichkeit; er wollte den nachdenklichen, den unverbildeten Menschen ansprechen - nicht unbedingt den Berufsphilosophen, auf den er ohnehin nicht gut zu sprechen war.
Heidegger hat daher immer wieder kleinere Arbeiten veröffentlicht, die sich in bewusst einfach gehaltener Sprache an ein größeres Publikum wenden. Dieser, wenn man so will, popularphilosophische Aspekt seines Werks ist nicht zu unterschätzen. Er steht in Zusammenhang mit Heideggers Heimatverbundenheit, die zwar in einigen sprachlichen Wendungen Anklänge an ungute Volkstümeleien erahnen lässt, ansonsten aber im Bannkreis eines durchaus respektablen Wunschdenkens steht, das vom Naturgegebenen ausgeht und mit Notwendigkeiten umzugehen weiß.
Was Heidegger an seiner Heimat erfuhr, war ein Zuspruch der besonderen Art. Ihn hat er, an anderer Stelle, als den "Zuspruch des Feldweges" bezeichnet. Den Feldweg gab es und gibt es tatsächlich: Er verläuft in Heideggers Geburtsort Meßkirch und geleitet den Spaziergänger aus dem Hofgarten des Meßkircher Schlosses hinaus ins Freie, das inzwischen allerdings zurückgedrängt wurde. Der Feldweg, früher noch naturbelassen, ist heute eine betonierte Straße, die am Gymnasium Meßkirch vorbeiführt, das mittlerweile Martin-Heidegger-Gymnasium heißt.
Das Bild vom Feldweg
Das Erlebnis, das der Philosoph mit dem Feldweg verband, ist von zeitloser Gültigkeit; es kann als Bild genommen werden für den Gang des Denkens in vertrauter, zur Natur hin offen gehaltener Umgebung, die noch die Anklänge bereithält für eine ursprüngliche Gewissheit: "Wenn die Rätsel einander drängten und kein Ausweg sich bot, half der Feldweg. Denn er geleitet den Fuß auf wendigem Pfad still durch die Weite des kargen Landes. - Immer wieder geht zuweilen das Denken in den gleichen Schritten oder bei eigenen Versuchen auf dem Pfad, den der Feldweg durch die Flur zieht . . ."
Als Heidegger 1949 seine Gedanken über den Feldweg niederschrieb, sah er bereits voraus, was heute Wirklichkeit geworden ist: Das Offene einer Landschaft, in der die Geheimnisse des Ursprungs noch in tätiger Bewahrung stehen, ist überall gefährdet oder längst Stein und Beton geworden. Die Natur, einst ein blühender Garten, verkommt unter dem Zugriff der vorgeblich Gutwilligen; die Erde als Ganzes ist zum global verhunzten Aufenthaltsort geworden, an den man sich, wenn überhaupt, dereinst noch erinnern wird wie an ein sehnsüchtig stimmendes Museumsstück, dem keine Realität mehr entspricht. Wer verlernt hat, auf das Einfache zu achten, dem muss es von Grund auf misslingen, im Komplizierten Herr zu werden.
Der Mensch sollte sich daher weniger mit Zukunftsmusik beschäftigen, die ihm vorgespielt wird, sondern sich auf seinen Ursprung besinnen, der in jenem geheimnisvoll-wohltuenden Dunkel liegt, aus dem jedes Wissen erst hervorgeht - und in das es, eines Tages, wieder zurückfallen muss. Was auf dem Feldweg erfahren werden kann, ist eine Andächtigkeit, die den Menschen nicht kleiner macht, als er ist - sie stutzt nur seine Ansprüche zurecht, bringt ihn von der Maßlosigkeit zurück zum rechten Maß. Sein Wissen wird bodenständig und ruht in sich selbst: "Der Zuspruch des Feldweges erweckt einen Sinn, der das Freie liebt und auch die Trübsal noch an der günstigsten Stelle überspringt in eine letzte Heiterkeit. Sie wehrt dem Unfug des nur Arbeitens, der, für sich betrieben, allein das Nichtige fördert. . . "
Man könnte diese Sätze Heideggers, für sich genommen, als Botschaft aus der Provinz missverstehen, in der beschworen wird, was unserer Zeit verlorengegangen zu sein scheint. Heidegger jedoch ging es um mehr als um einen gutgemeinten Aufruf zur Besinnung - er gedachte, vom Einfachen her, die gesamte bisherige Philosophiegeschichte umzuschreiben, die, spiegelbildlich zum sogenannten wirklichen Leben, der "Seinsvergessenheit" anheimgefallen ist.
Von den Ursprüngen des abendländischen Denkens, die Heidegger in der frühen griechischen Philosophie begründet sah, hat sich die herrschende Vernunft ganz und gar entfernt; der Mensch gefällt sich als Meister der Wissenschaften, die keinen sachfremden Zuspruch mehr benötigen, sondern sich nur noch am Ideal des Machbaren orientieren. Das hat zu unerträglicher Anmaßung geführt, aber auch zu quälenden Zweifeln. Der moderne Mensch ist, weit mehr als alle seine Vorgänger, uneins mit sich selbst; zwischen dem unglücklichen Ich und einer abgerichteten Welt existieren nur noch die Verbindungen bloßer Habgier.
Ort der Wahrheit
Hatte Heidegger als junger Philosoph noch den Befindlichkeiten des Menschen nachgespürt, der sich zwischen Angst und Sorge, zwischen Lebens-Entwurf und Sterbens-Gewissheit immer wieder neu zurechtfinden muss, so nimmt seine Spätphilosophie eine Kehrtwendung vor: Der Mensch, eingeengt durch die eigenen Machenschaften, wird zur Bescheidenheit verpflichtet; er soll Zuhörender, Nachdenkender, Vernehmender sein, er soll das "Ungedachte im Gedachten" denken und zum "Hirten" des einen geheimnisvollen Seins werden.
Das Sein aber ereignet sich nur dort, wo es seine Entsprechung findet - an einem Ort der Wahrheit etwa, den Heidegger als "Lichtung" bezeichnet: "Das Licht (. . .) kann in die Lichtung, in ihr Offenes, einfallen und in ihr die Helle mit dem Dunkel spielen lassen. Aber niemals schafft das Licht erst die Lichtung, sondern jenes, das Licht, setzt diese, die Lichtung, voraus. Indes ist die Lichtung, das Offene, nicht nur frei für Helle und Dunkel, sondern auch für Hall und das Verhallen, für das Tönen und das Verklingen. Die Lichtung ist das Offene für alles An- und Abwesende . . ."
Heidegger verstand es, seine Philosophie, im Blick auf das Große und Ganze, in Unentschiedenheit zu halten; im Kleinen jedoch, bei den Fragen nach einer sinnvollen, vom Nachdenken angeleiteten Lebensführung beispielsweise, zeigte sie Mut und wagte einfache, gelegentlich auch naiv anmutende Antworten. Das Geheimnis des Seins bleibt unentschlüsselt; dennoch kann man, zumindest in raunender Annäherung, einiges zu ihm sagen.
Ein Aspekt von Heideggers Denken ist heute auf jeden Fall noch akut: seine Technik- und Apparatekritik. Heidegger erkannte schon früh, dass der Mensch die maschinellen Geister, die er rief, nicht mehr los wird - er lässt sich von ihnen unterdrücken, ohne es recht zu merken. Freiheit wird somit zu einer trügerischen, am vordergründigen Dienstbarmachen der Welt orientierten Freiheit, die auch deshalb unecht ist, weil sie sich vom Wesen des Menschen hinwegbewegt hat: "Jetzt erscheint die Welt wie ein Gegenstand, auf den das rechnende Denken seine Angriffe ansetzt, denen nichts mehr soll widerstehen können. Die Natur wird zu einer einzigen riesenhaften Tankstelle, zur Energiequelle für die moderne Technik und Industrie . . ."
Die Zeit drängt, aber noch scheint ein Umdenken möglich. Der Mensch sollte sich nicht nur auf seine globale Verantwortung besinnen, die der Gesamtheimat Erde gilt, sondern auch auf die Kraft, die aus dem Vertrauten, aus der Heimat in seiner Nähe erwächst, von der Heidegger sagt, dass sie dasjenige ist, "was uns im Kern unseres Daseins trägt und bestimmt und gedeihen lässt". Eine solche Besinnung schließt auch den verantwortungsvollen Umgang mit der Natur, der Technik und den Apparaten ein: "Es wäre töricht, blindlings gegen die technische Welt anzurennen. Es wäre kurzsichtig, die technische Welt als Teufelswerk verdammen zu wollen. Wir sind auf die technischen Gegenstände angewiesen (. . .) Unversehens sind wir jedoch so fest an die technischen Gegenstände geschmiedet, dass wir in die Knechtschaft zu ihnen geraten. - Aber wir können auch Anderes. Wir können zwar die technischen Gegenstände benutzen und doch bei aller sachgerechten Benützung uns von ihnen so freihalten, dass wir sie jederzeit loslassen."
Gemessen an den vernichtenden Urteilen, die über Martin Heidegger im Umlauf sind, mag die Vorstellung, er könne uns, unter anderem, auch als Lebensberater dienen, fast abwegig anmuten. Und dennoch ist von ihm zu lernen: Bescheidenheit etwa, eine Eigenschaft, die er selbst immer dann vermissen ließ, wenn er sich in die Verteidigungshaltung gedrängt sah und die Größe seiner Philosophie in Zweifel gezogen wurde. In Heideggers kleineren Schriften jedoch wird uns eine Bescheidenheit anempfohlen, die sich aus der wahren Situation des Menschen ergibt.
Heidegger war ein sehr deutscher Philosoph, der, gerade weil er nicht modern sein wollte, der Moderne einige Wahrheiten ins Stammbuch schrieb, von der sie nicht loskommen sollte. Neu an ihm war auch, dass er die Provinz zu seiner Bühne machte. Der Zuspruch des Feldweges, den man, wie Heidegger vorgeführt hat, auch für die Banalität des Bösen umdeuten kann, muss uns Heutigen, die wir geübt darin sind, alles besser zu wissen, trotz allem nicht fremd bleiben. Was wir aus ihm heraushören können, ist, neben seiner eigentlichen Botschaft, die Aufforderung zur Gelassenheit: "Allein - die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis fallen uns niemals von selber zu. Sie sind nicht Zu-fälliges. Beide gedeihen nur aus einem unablässigen herzhaften Denken."
Otto A. Böhmer, geboren 1949, lebt als Schriftsteller in der Nähe von Frankfurt am Main. Zuletzt ist von ihm u.a. erschienen: "Reif für die Ewigkeit. Sören Kierkegaard und die Kunst der Selbstfindung" (Diederichs, 2013).