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Das Ende der Gelassenheit

Von Hermann Mückler

Gastkommentare
Hermann Mückler ist Ethnologe und Professor an der Universität Wien mit den Regionalschwerpunkten Australien, Ozeanien und Asien-Pazifik.
© privat

Nach Jahrzehnten stabiler Verhältnisse steuern die pazifischen Inselstaaten in stürmische Gewässer. Chinas Agieren mag ein Grund dafür sein, einige Konflikte sind aber hausgemacht.


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2021 ist für Ozeanien kein gutes Jahr. Wie kaum zuvor seit Ende des Zweiten Weltkriegs vertieften sich heuer viele bereits vorhandenen Bruchlinien, und einige neue taten sich auf. Bilder von brennenden Gebäuden und geplünderten Geschäften in Honiara, der Hauptstadt des pazifischen Inselstaates Salomonen, gingen um die Welt. Ebenfalls Aufmerksamkeit erregte die Meldung, dass der Inselstaat Kiribati eines der größten Meeresschutzgebiete für die kommerzielle Nutzung öffnen will und damit dem globalen Trend zu mehr Schutz für die fragilen maritimen Ökosysteme zuwiderhandelt. Schließlich droht ein Konflikt in der französischen Kolonie Neukaledonien, wo zwar ein vereinbartes drittes Referendum für eine Unabhängigkeit abgehalten wurde, dessen Ergebnis eines Verbleibs bei Frankreich aber von den Separatisten aufgrund der unglücklichen Rahmenbedingungen nicht anerkannt wird.

Die pazifischen Inselstaaten in den drei Subregionen Melanesien, Polynesien und Mikronesien sind jeder für sich Kleinstaaten, zusammen bilden die dreizehn unabhängigen Inselstaaten und zwölf abhängigen Gebiete auf dem internationalen Parkett bei geschlossenem Abstimmungsverhalten aber eine relevante Größe. So unterschiedlich die Interessen der einzelnen Inselstaaten sein mögen, sie alle verbindet eine Gemeinsamkeit: Sie sind ohne äußere Hilfe kaum lebensfähig und daher Spielbälle fremder, rivalisierender Mächte.

Austritte aus dem Inselforum und eine turbulente Wahl

Es begann am 5. Februar dieses Jahres, als fünf der achtzehn Mitgliedstaaten des Pazifischen Inselforums (PIF), des wichtigsten regionalen Kooperationsbündnisses, aus diesem austraten. Uneinigkeiten über die Wahl des neuen Generalsekretärs, bei der sich die mikronesischen Staaten übergangen fühlten, führten dazu, dass Palau, die Föderierten Staaten von Mikronesien, die Marshall-Inseln, Nauru und Kiribati dem Bündnis den Rücken kehrten. Statt den Kandidaten der mikronesischen Staaten zu wählen, wie es im informell festgelegten Rotationsprinzip erwartbar gewesen wäre, wurde ein Gegenkandidat von den Cook-Inseln zum neuen Generalsekretär gewählt. Neue Allianzen und, wie es gerüchteweise verbreitet wurde, der Einfluss des PIF-Mitglieds Australien, hatten zu diesem überraschenden und für einige inakzeptablen Ergebnis geführt.

Dies hatte symbolische Wirkung nach außen, nämlich dass die vormalige Geschlossenheit der Inselstaaten, die mit einer starken Stimme etwas bewegen konnten, nun deutlich eingeschränkt ist. Darüber hinaus hatte es praktische Auswirkungen in der inneren Zusammenarbeit bei gemeinsamen Projekten. Die Gründe sind vielschichtig und unter anderem in traditionellen Rivalitäten und Kämpfen um Pfründe untereinander zu suchen sowie in den pandemiebedingt nur unzureichend bestehenden Möglichkeiten, sich vorab abzustimmen und Kompromisse auszuhandeln.

Am 9. April ereignete sich der nächste, bis dahin in der Region für undenkbar gehaltene Konflikt: Bei der Wahl eines neuen Regierungschefs im unabhängigen polynesischen Inselstaat Samoa gewann die Opposition gegen den seit 23 Jahren amtierenden 76-jährigen Tuilaepa Sailele Malielegaoi, der sich jedoch weigerte, das Wahlergebnis anzuerkennen, laut dem die neu gegründete FAST-Partei unter Führung der 64-jährigen Fiame Naomi Mata’afa mit 26 der 51 Parlamentssitze knapp die Mehrheit errungen hatte. Malielegaoi klammerte sich an sein Amt und scheute auch nicht davor zurück, im Stile Donald Trumps die Realitäten einfach zu ignorieren und offensiv Lügen zu verbreiten. Als die gewählte Mata’afa sich vereidigen lassen wollte, blieb ihr und ihrer Partei der Zugang zum Parlament verwehrt. Kurzerhand ließ die Politikerin im Garten vor dem Parlamentsgebäude unter Applaus ihrer Parteikollegen ihre eigene Vereidigungszeremonie in einem Zelt abhalten.

Chaos auf Samoa nach Jahrzehnten der Stabilität

Nicht nur der Wechsel an der Spitze des Landes, sondern die Ereignisse seit der Wahl verursachten ein politisches Erdbeben in dem kleinen Land mit knapp 200.000 Einwohnern, wo die "Partei zum Schutz der Menschenrechte" (HRPP) von Premier Malielegaoi seit fast 40 Jahren regiert hatte. Erst höchstrichterliche Entscheidungen ermöglichten der neuen Regierungschefin eine vollumfängliche Aufnahme der Regierungstätigkeit. Seit der Wahl versinkt das vormals über Jahrzehnte stabile Samoa im politischen, postfaktischen Chaos, denn der abgewählte Premier lässt keine Gelegenheit aus, die Rechtmäßigkeit der Wahl in Zweifel zu ziehen und durch permanentes Störfeuer das politische Klima nachhaltig zu vergiften.

Dabei hatte sich gerade Samoa gegenüber seinem Nachbarn, dem zunehmend autoritärer regierten Inselstaat Fidschi, in den vergangenen Jahren immer wieder in Stellung gebracht, um sich als die demokratischere Alternative für die Aufnahme regionaler Institutionen ins Spiel zu bringen.

Fidschi wird schon länger als politisch erratisch wahrgenommen. Vier Putsche seit 1987 und zuletzt 2006 gelten in der Region als beispiellos. Der Anführer des jüngsten Coups, Frank Bainimarama, Kommandeur der fidschianischen Armee, ließ 2013 eine neue Verfassung in Kraft treten, die ein Jahr später die Abhaltung von freien demokratischen Wahlen erlaubte. Als Anführer der von ihm gegründeten Partei FijiFirst wurde er selbst Premier des Inselstaates mit knapp einer Million Einwohnern und amtiert bis heute.

Die Regionalmacht China als Game-Changer in Ozeanien

Obwohl Fidschi heute als politisch ruhig gilt, wird der Führungsstil des mit absoluter Mehrheit regierenden Premierministers zunehmend fragwürdiger. Unliebsame Kritiker wurden wiederholt des Landes verwiesen und die Medien einer verstärkten Kontrolle unterworfen. Gleichzeitig hat sich Fidschi von Australien und Neuseeland aufgrund von deren Kritik abgewandt und sowohl auf dem internationalen Parkett profiliert als auch China zugewandt. Der Umfang der chinesischen Darlehen ist zwischenzeitlich so groß, dass manche Oppositionspolitiker bezweifeln, ob diese je zurückgezahlt werden können. Australien und die USA wiederum fürchten, dass Fidschi der Regionalmacht China als Einfallstor ins Zentrum der pazifischen Inselwelt dienen könnte.

Gerüchte, dass Fidschi oder auch der westlich liegende melanesische Staat Vanuatu den Chinesen die Errichtung eines Militärstützpunktes im Gegenzug für eine Schuldentilgung einräumen könnten, tauchen immer wieder auf. Ähnliches gilt für das eingangs erwähnte Kiribati, das Fischfanglizenzen in großem Stil an China vergeben und auf der Insel Canton (Abariringa) in der Gruppe der Phoenix-Inseln den Chinesen den Bau eines Flughafens erlauben will.

Auch der Umstand, dass in Neukaledonien das jüngste von drei Referenden über Unabhängigkeit oder Verbleib bei der Kolonialmacht Frankreich noch heuer am 12. Dezember durchgeführt wurde, hängt indirekt mit China zusammen. Das Referendum wurde gegen den taktisch begründeten Wunsch der kanakischen Unabhängigkeitsbefürworter durchgezogen und erbrachte - aufgrund eines Boykottaufrufs der Separatisten - bei einer sehr geringen Wahlbeteiligung ein erwartbares überwältigendes Votum von 96,5 Prozent für einen Verbleib bei Frankreich. Die nach dem Nouméa-Abkommen von 1998 vorgesehenen drei Referenden gingen somit allesamt gegen eine Unabhängigkeit Neukaledoniens aus, die beiden ersten vergleichsweise knapp mit 56,7 Prozent (2018) und 53,26 Prozent (2020). In welche Richtung zukünftige Referenden ausgehen werden, ist trotz einer sich für die Kanaken demografisch günstig entwickelnden Perspektive ungewiss.

Frankreich will in der Region im Spiel bleiben

Frankreich ist sehr daran interessiert, Neukaledonien als Kolonie zu erhalten, nicht nur wegen der dort vorhandenen weltweit viertgrößten Nickelvorräte, sondern auch aufgrund des erwartbaren chinesischen Einflusses auf ein unabhängiges Neukaledonien. Nachdem die Australier mit den USA und Großbritannien die strategische, gegen China gerichtete Allianz Aukus gegründet haben, will Frankreich als Player in der Region präsent bleiben.

Ebenso haben die derzeitigen Unruhen auf den 1978 unabhängig gewordenen Salomonen einen direkten Bezug zu China. Der amtierende Premierminister Manaseh Sogaware wandte sich 2019 von Taiwan, mit dem man 36 Jahre lang enge diplomatische Beziehungen gepflegt hatte, ab und China zu. Kurzzeitig wollte man sogar eine ganze Insel, Tulagi, den Chinesen im Gegenzug für Millioneninvestitionen zur Verfügung stellen. Gleichzeitig verbot Sogawares wichtigster Gegenspieler, Daniel Suidani, der Premier der bevölkerungsreichen Insel Malaita, chinesische Unternehmen in seiner Provinz und nahm stattdessen Entwicklungshilfe aus den USA an. Bei den Ausschreitungen Ende November wurden vor allem chinesische Geschäfte in der Hauptstadt geplündert und zerstört. Viele der Demonstranten stammten aus Malaita, leben und arbeiten aber auf Guadalcanal in Honiara.

Die Ursachen für die Ausschreitungen liegen tiefer. Sie sind in der Frustration über hohe Arbeitslosigkeit und die grassierende Korruption sowie im Ausverkauf der Ressourcen (insbesondere von Edelhölzern) begründet. Darüber hinaus gibt es seit Jahrzehnten Spannungen zwischen Malaita und Guadalcanal, wo zwar viele Malaiter leben, aber von den Guadalcanalern nicht akzeptiert werden. Eine nie umgesetzte Dezentralisierung und eine nur rudimentär vorhandene Infrastruktur ergänzen die strukturellen Defizite des Inselstaates mit rund einer Dreiviertelmillion Einwohnern.

Dass ähnliche Bedingungen und Entwicklungen auch im benachbarten Papua-Neuguinea - wo sich zum Beispiel die Insel Bougainville abspalten will - sowie teilweise in Vanuatu beobachtet werden können, lässt für die Zukunft nichts Gutes erwarten. Viele der Inselstaaten gehen unruhigen Zeiten entgegen.