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Das Ende der goldenen Ära

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Wirtschaft

Höhere Einkommen und mehr Mittelstand: In seiner Ära schuf Regierungschef Erdogan einen Wirtschaftsboom. Doch der ist nun vorbei.


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Istanbul. Als Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im November 2002 erstmals die Parlamentswahlen gewann, stand die Türkei kurz vor der Staatspleite. Eine schwere Rezession ließ die Wirtschaftsleistung um acht Prozent schrumpfen, die Inflation betrug 44 Prozent. Mit Milliardenkrediten des Internationalen Währungsfonds (IWF), einer strengen Austeritätspolitik und strikter Ausgabendisziplin führte Erdogan das Land zu einem ungekannten Wirtschaftsboom, der ihm zeitweise chinesische Wachstumsraten von bis zu neun Prozent bescherte. Stabile politische Verhältnisse, Wirtschaftsreformen, niedrige Löhne und die Privatisierung der meisten staatlichen Unternehmen zogen Investoren aus aller Welt an.

Der Boom wurde einerseits getragen durch den staatlich geförderten Bau riesiger Satellitenstädte, Einkaufszentren und Bürohochhäuser sowie massive Investitionen in die Infrastruktur. Dazu kamen Erdogans neue, von ihm selbst als "verrückte Projekte" bezeichnete Bauvorhaben in Istanbul: die dritte Bosporusbrücke, der größte Flughafen der Welt, der "Kanal Istanbul" als Bypass zum Bosporus. Zum anderen gelang es der AKP-Regierung mit einem gezielten Maßnahmenprogramm für den Mittelstand, einer neuen Schicht konservativer Unternehmer aus Zentralanatolien den Aufstieg zu ermöglichen. Förderprogramme wurden speziell auf kleine und mittelständische Betriebe zugeschnitten, die Wirtschaftsverwaltung wurde dezentralisiert und entbürokratisiert. Als Folge entstanden hunderttausende Arbeitsplätze in aufstrebenden Städten wie Gaziantep, Kayseri oder Konya, die wegen ihrer wirtschaftlichen Dynamik auch "anatolische Tiger" genannt werden.

Zugleich griffen Maßnahmen, die den Binnenkonsum stärkten. Die halbstaatlichen Banken gaben erstmals Privatkredite aus, ein Bauprogramm mit günstigen Konditionen ermöglichte unteren Einkommensschichten den Erwerb von Eigentumswohnungen. So wuchs die Mittelschicht, die sich eine Wohnung, ein Auto, Bildung für die Kinder leisten kann. Betrug die Zahl der Armen nach Weltbankstandards (weniger als fünf US-Dollar am Tag) im Jahr 2002 noch 43 Prozent, so sank sie bis 2012 auf 22 Prozent, während sich der Anteil der Mittelschicht von 20 auf 40 Prozent verdoppelte. Seit Erdogans Amtsantritt 2002 hat sich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Türken verdreifacht und die Wirtschaftsleistung um 73 Prozent erhöht. Damit schnitt die Türkei zwar besser ab als EU-Länder wie Kroatien, die Tschechische Republik oder Ungarn, aber schlechter als Polen.

Spiel mit hohem Risiko

Doch der Boom ist jetzt vorbei. In den vergangenen zwei Jahren sanken die Wachstumsraten kontinuierlich, die Inflation galoppiert wieder bei neun Prozent, für 2014 wird nur noch ein moderates Wachstum von 3,3 Prozent erwartet. Vor allem konnte Erdogan die Grundschwäche der türkischen Wirtschaft nicht heilen: das Handelsbilanzdefizit von 65 Milliarden Dollar (2013), das sechstgrößte weltweit. Auch wenn der Verfall der Lira das Defizit zuletzt leicht verringert hat, importiert das Land weiterhin viel mehr als es exportiert; die Staatsverschuldung hat bedrohlich zugelegt. Der Aufschwung war wesentlich durch günstiges Geld aus dem Ausland finanziert worden, das seit dem Ende der ultralockeren Geldpolitik der US-amerikanischen Notenbank Fed wieder abzufließen begann und die türkische Zentralbank motivierte, den Leitzins im Januar auf zehn Prozent anzuheben.

Die hohen Zinsen haben zwar den Geldabfluss und den Verfall der Lira gestoppt, doch drehen sie heimischen Unternehmen die Luft ab und bremsen den privaten Konsum als Motor der Wirtschaft. Schon ist von einem möglichen Zusammenbruch des aufgeblähten Immobiliensektors die Rede. Die Regierung versucht nun, mit immer größeren Projekten die Baukonjunktur am Leben zu erhalten: neue Flughäfen, neue
Brücken, neue Staudämme - ein Spiel mit hohem Risiko.