Der liberale Grundkonsens, der die Nachkriegszeit geprägt hat, ist spätestens mit der Migrationskrise beendet.
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Wir leben, so scheint es, wieder in jenen "interessanten Zeiten", die im alten China als Fluch galten. Ein Wort macht die Runde: Polarisierung. Die gesamte westliche Welt ist davon betroffen. Die Gräben, die sich in Europas Gesellschaften auftun, sind tief, breit und unüberbrückbar. An Stelle eines diffus linksliberalen, postmodernen Lebensgefühls jenseits ideologischer Bruchlinien, das lange Zeit alternativlos schien und auf dem beispielsweise die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Politik aufbaute, ist eine scharfe ideologische Konfrontation zwischen links(liberal) und rechts(konservativ) getreten.
Hauptsächlich entzündet sie sich am heute alles beherrschenden Thema: Migration und Islam. Die beiden Lager, die Anhänger der sogenannten Willkommenskultur und die Skeptiker und Islamkritiker, stehen sich derart unversöhnlich gegenüber, dass man sich nicht einmal auf eine gemeinsame Faktenbasis für eine Diskussion einigen kann. In sozialen Netzwerken zitiert jede Seite Statistiken, die die eigenen Argumente untermauern und den Daten der Gegenseite widersprechen. Hitzige Diskussionen enden meist rasch in einer Art "Ich sehe was, was Du nicht siehst"-Spiel. Das immer schwächer werdende linksliberale Lager hält die Probleme bei der Integration von Muslimen für aufgebauscht. Es wittert im zunehmenden Erstarken eines Rechtspopulismus in den westlichen Ländern eine ernste Gefahr für die Demokratie. Konservative und Rechte hingegen halten diese Sicht der Dinge für eine krankhafte Fixierung auf die 1930er Jahre, für einen Tunnelblick, der verhindert, dass die wahre Gefahr erkannt wird: Die zunehmende Islamisierung des Kontinents - und damit das Ende Europas, wie es sich in mehr als tausend Jahren herausgebildet habe.
Doch nicht überall sind die Frontlinien in den aktuellen Konflikten der Gegenwart so eindeutig wie in der Migrationsfrage. Sie mögen Beobachtern, die auf die gegenwärtige Lage die alten Raster anwenden, manchmal verwirrend erscheinen: Stramme Linke und Grüne setzen statt auf Pazifismus zunehmend auf Militärinterventionen zur Lösung humanitärer Krisen. Umgekehrt geben sich heute ausgerechnet Rechtsparteien wie die FPÖ oder die deutsche AfD außenpolitisch betont defensiv.
Konservative wandern nach links, Linke nach rechts
Auch das Verhältnis zu Moskau hat sich auf den Kopf gestellt: Zwar gibt es immer noch viele Linke, die Verständnis für die Politik von Russlands Präsidenten Wladimir Putin äußern, da Russland von der Nato eingekreist und bedroht werde. Im Großen und Ganzen aber sind es heute oft Rechte, lange Zeit nicht gerade russlandfreundlich, die Moskau und seine Politik konservativer Werte verteidigen - auch dann, wenn diese von ehemaligen KGB-Leuten exekutiert wird. Während viele Alt- und Strukturkonservative in den letzten Jahrzehnten gemeinsam mit dem Zeitgeist nach links gerutscht sind, findet sich in der immer stärker werdenden Neuen Rechten eine große Anzahl ehemals linker Konvertiten.
Pardon wird in der neuen Konfliktgesellschaft nicht gegeben - auch dann nicht, wenn es nicht um das Thema Migration geht. Denn auch bei den Fragen Syrienkrieg oder Russland und Ukraine, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, ist der Einsatz stets hoch, geht es für beide Lager doch ums Ganze: Für meist linksliberal geprägte Prowestler geht es um die Verteidigung der höchsten universalen Werte, der Menschenrechte, und darum, dass man dem russischen "Aggressor", dem so gut wie alles zugetraut wird, und seinen Propagandisten und "Fake News"-Produzenten Grenzen setzt. Die sogenannten "Putinversteher" auf der anderen Seite des Zaunes sehen in der Politik der Nato und ihrer Anhänger ein gefährliches In-die-Enge-Treiben Russlands. Hier ist das Vertrauen ins eigene westliche Lager komplett abgerissen, hier traut man der Nato alles zu - bis zur Anzettelung eines neuen Weltkrieges.
Ähnlich mit Emotionen aufgeladen ist die Stimmung, wenn es um die Gegenwart und Zukunft Europas geht. Während EU-Fans wie der Schriftsteller Robert Menasse oder die Politologin Ulrike Guerot die Errichtung einer Republik Europa und die Auflösung der Nationalstaaten fordern, hält man das auf der anderen Seite für eine irreale, gefährliche Utopie - und will das europäische Projekt zu einem "Europa der Vaterländer" zurückfahren. Ein Kompromiss? Nicht vorstellbar.
In Krisenzeiten zerbrechen frühere Sicherheiten
Die multidimensionale Konfliktgesellschaft unserer Tage unterscheidet sich tatsächlich massiv von dem, was Westeuropa seit dem Ende des letzten Krieges gekannt hat. Es findet eine dramatische Repolitisierung statt, die manche an die unselige Zwischenkriegszeit erinnert. Das ist kein Zufall: Damals zerbrachen - besonders in den besiegten Staaten Österreich, Ungarn und vor allem Deutschland - die liberalen Sicherheiten der Vorkriegszeit. Der Zusammenbruch jahrhundertealter Monarchien, die rasante Entwertung des Geldes, das Trauma der Niederlage, später die Weltwirtschaftskrise zogen den neugegründeten demokratischen Republiken von Anfang an den Boden unter den Füßen weg.
Das Bestehende schien nur ein Provisorium, nicht auf Dauer gegründet, da der Wille zum Kompromiss fehlte. Wie hätte der auch aussehen sollen? Konservative träumten von einer Wiedererrichtung der Monarchie, Linke von der sozialistischen Gesellschaft, das nationale Lager von neuer Größe der Nation. Ideologien wie Faschismus, Kommunismus und Nationalsozialismus entwarfen an Stelle der alten liberalen und konservativen Ordnung Zukunftsentwürfe perfekter Kollektivstaaten, in denen die brodelnden Konflikte der Zwischenkriegszeit aufgehoben werden würden und die reine Harmonie herrschen sollte - die Vernichtung der Klassen- oder Volksfeinde stellte dabei einen der Schritte zum Paradies dar. Die Zukunft - oder alternativ: die Rückkehr zu scheinbar harmonischen vergangenen Verhältnissen - musste dabei die unerfreuliche, krisenhafte Gegenwart erlösen.
Nach 1945 war der Weg in die Zukunft klar vorgezeichnet
Nach 1945 war die Situation in Westeuropa mit einem Schlag anders. Die Konflikte der zuvor unversöhnlichen Lager waren jetzt, nach dem Weltkrieg und inmitten der Ost-West-Konfrontation, etwas Gestriges geworden. Wieso? Hatten diese Konflikte aufgehört zu existieren? Nein, aber sie waren, marxistisch gesprochen, "Nebenwidersprüche" geworden: Der Hauptwiderspruch zum kommunistischen Gegner verband die früheren Streitparteien. Inmitten aller ideologischen Konflikte war der gemeinsame Weg klar: Man wollte zum westlichen Lager gehören. Die liberale Demokratie war jetzt kein Provisorium mehr, sondern verkörperte die einzig mögliche Zukunft. Politische Konflikte beschränkten sich auf Modulationen innerhalb des gemeinsam Akzeptierten, sie spielten sich innerhalb des Systems der liberalen Demokratie ab, das insgesamt nicht in Frage gestellt wurde. Der wundersame wirtschaftliche Aufschwung und die Stabilität der weltpolitischen Situation bewirkten eine konstant hohe Unterstützung in der Bevölkerung.
Doch die bequeme Nachkriegszeit dürfte in Mitteleuropa spätestens mit der Migrationskrise seit 2015 endgültig vorbei sein. Die alten Sicherheiten werden fragwürdig. Das früher breite Vertrauen ist weg, die Zuversicht ist Unsicherheit gewichen. Rechte Politiker wie der ungarische Premier Viktor Orban streben eine "illiberale Demokratie" an und kündigen damit den liberalen Grundkonsens auf - einen Grundkonsens freilich, der zuvor schon weitgehend unterhöhlt war: Auch Linke und Gesellschaftsliberale werden bereits seit längerem, mit Botho Strauß gesprochen, "immer rücksichtsloser liberal", reagieren hypernervös auf abweichende Meinungen und fordern, Abweichlern "kein Podium" zu bieten.
Die Repolitisierung erstreckt sich auf so gut wie alle Lebensbereiche, missionierende Mikrogesellschaften breiten sich aus - man bewegt sich heute als Veganer, Feminist, Tierschützer, Atheist, konservativer oder progressiver Christ oder Menschenrechtsaktivist in der eigenen Echokammer, eine Entwicklung, die durch die sozialen Medien rapide verstärkt wird. Dazu kommt die Herausforderung dieser zerfallenden Gesellschaft ohne gemeinsamen Nenner, die in der Beschwörung europäischer "Werte" ihr Heil sucht, durch einen politischen Islam, der seinen Anhängern ein scharf umrissenes Identitätsangebot liefert. Es ist den oft zitierten Werten des liberalen Europa schroff entgegengesetzt.
Keine Rückkehr zur Nachkriegszeit möglich
In dieser Lage ist eine Rückkehr zu den vergleichsweise malerischen Verhältnissen der Nachkriegszeit unmöglich. Ulrike Guerot spricht gar davon, dass sich Europa in einem "neuen Bürgerkrieg" befindet, in Konflikten zwischen links und rechts, die sie allerdings als notwendige Geburtswehen eines neuen, besseren Europas wertet. Wie sieht ein möglicher gemeinsamer Nenner, ein neuer Grundkonsens inmitten einer zutiefst fragmentierten und emotionalisierten Gesellschaft aus? Kann es einen solchen überhaupt geben? An der Beantwortung dieser Frage wird sich die unmittelbare Zukunft Europas entscheiden.