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Das Ende der roten Kirche

Von Stefan Winkler

Politik
Tristesse in der Banlieu von Cavaillon.
© Winkler

Wie kaum eine zweite Partei standen die Sozialisten einst für das vom Geist der Laizität getragene, linke republikanische Frankreich. Ihr Niedergang hat dramatische Folgen für das ganze Land.


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Zwischen Gaillac und Albi steht unter wolkenverhangenem Himmel ein Mann in einem Weinberg und schneidet Reben. In der Ferne steigt zwischen bewaldeten Hügeln ein dünner Rauchfaden auf. Die Szene hat etwas Friedliches. Stünde nicht ein weißer Kastenwagen zwischen den Spalieren, könnte man meinen, in diesem einsamen Landstrich im Südwesten von Frankreich sei die Zeit stehen geblieben.

Doch das Bild ist schöner Schein. Sehr früh hat diese wasserarme Gegend mit ihren kargen Böden einen von armen kleinbäuerlichen Milieus getragenen ländlichen Sozialismus hervorgebracht. Und sozialistisch ist sie bis heute geblieben.

Doch die roten Bastionen im Midi bröckeln. Ausgerechnet in der ehemaligen Bergarbeiterstadt Carmaux im Departement Tarn, wo Jean Jaures, der Gründervater der französischen Sozialisten, gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Grundstein für seinen politischen Aufstieg legte, hat der Parti Socialiste (PS) bei den Kommunalwahlen im Juni 2020 das Rathaus verloren. 128 Jahre regierten die Sozialisten die Stadt. Alain Espie ist der Mann, der den Bürgermeistersessel räumen musste. "Das war hart", sagt der 66-Jährige. "Aber ich empfinde keine Bitterkeit. Das Leben besteht aus Erfolgen und aus Misserfolgen."

Früher kamen hier Politiker vorbei, heute hält der linke Held Jaures einsam eine Ukraine-Fahne.
© Winkler

Jovial, aber nicht anbiedernd und geradeheraus in der Rede ist der groß gewachsene grauhaarige Mann mit den sanften Augen alles andere als ein hemdsärmeliger Volkstribun. Aus einfachen Verhältnissen stammend - der Großvater fuhr noch in die Kohlegrube - hat er es bis zum Regionalmanager bei France Telecom gebracht. Dem Parti Socialiste trat er bei, kaum dass er volljährig war. "Wenn du etwas zu teilen hast, teile es. Das ist der Grundsatz, mit dem ich zuhause aufgewachsen bin", sagt Espie.

Hollande sorgte für Chaos

Zwölf Jahre lang war er Bürgermeister. Dass er abgewählt wurde, schreibt er der Pandemie zu. "Man hat mich beschuldigt, die Leute zu vergiften". Doch letztlich, meint Espie, füge sich seine Niederlage in ein viel größeres Szenario des Niedergangs: den dramatischen Verfall der ehemals mächtigen französischen Sozialisten. "Der PS ist in der Krise. Die Gründe dafür liegen in der Präsidentschaft von François Hollande, der in der Partei sehr umstritten war. Chaos und Kleinkriege brachen aus. Viele sind zur extremen Linken gewechselt, andere haben sich Macrons Liberalen angeschlossen."

So sei die Partei Schritt für Schritt zum bloßen Schatten ihrer selbst verkommen. Dabei wäre vieles so einfach: "Arbeit, Gesundheit - das ist es, was die Leute wünschen." Darum sollte sich sozialistische Politik drehen. "Aber unsere Politiker sind zu weit weg. Einmal sind sie rechts, dann wieder links. Der Verfall des PS vollzieht sich auch in einer Zersplitterung der Ideen."

Es ist später Vormittag. Der Kellner im Grand Café de La Poste deckt die Tische für den Mittag. Vor der Tür auf der mit Autos voll geparkten Place Jean Jaures sind Gemeindebedienstete mit einer Leiter damit beschäftigt, der Statue der Arbeiter-Ikone eine ukrainische Fahne zwischen die marmornen Finger zu stecken.

Der Staat zieht sich zurück

"Viel gibt es in Carmaux nicht zu sehen", hatte Espie gemeint, als wir uns telefonisch verabredeten, fast so, als wolle er sich entschuldigen. Der Kohlebergbau, der einst Tausenden Kumpeln Arbeit gab, ist seit vielen Jahren geschlossen. Auch die Glasindustrie wanderte ab. Wer Arbeit finden will, zieht ins nahe Toulouse. Zurück bleiben die Alten. Carmaux wirkt wie eine Stadt, die nicht nur ihre Vergangenheit, sondern auch die Zukunft hinter sich hat.

Abgewählt in einstiger Hochburg: PS-Bürgermeister Espie.
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Vorbei an leer stehenden Geschäften und Häusern mit schmutziggrauen Fassaden fahren wir in die Rue Victor Hugo zum Gewerkschaftshaus der Minenarbeiter von Carmaux, wo 1892 mit der Parteinahme von Jean Jaures, damals Redakteur der Zeitung La Depeche du Midi, für die gegen ihre politische Entrechtung durch den lokalen Kohlebaron streikenden Kumpel alles begann. "Jaures kam in die Stadt und blieb. Er wurde erster sozialistischer Abgeordneter von Carmaux", erzählt Espie. Das Engagement des kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wegen seiner pazifistischen Haltung ermordeten Jaures sei für das Werden der französischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung bewusstseinsbildend gewesen. Sein Erbe lebe bis heute fort.

Tatsächlich startete Francois Mitterrand im Jahr 1980 vor dem Jaures-Denkmal in Carmaux seinen Wahlkampf, der ihn als ersten Sozialisten in den Elyseepalast tragen sollte. Danach taten es ihm alle Kandidaten des PS um das höchste Amt im Staat gleich: Ein Besuch in Carmaux wurde gleichsam zur Pflicht.

Doch mit dem Niedergang der Partei verblasst auch der Glanz der linken Symbolstadt. Anne Hidalgo ist die erste sozialistische Präsidentschaftsbewerberin, die mit dieser Tradition bricht. Die in den Meinungsumfragen bei zwei Prozent dümpelnde Bürgermeisterin von Paris schlug um Carmaux einen weiten Bogen. Sie ist in Wahrheit ohnehin nur mehr Kandidatin eines auf nationaler Ebene irrelevant gewordenen Gerippes, dessen reale Macht auf ein paar große Städte wie Paris, Marseille, Nantes, Lille und fünf Regionen beschränkt ist.

Bei den Bewohnern von Carmaux dürfte die Absenz das Gefühl verstärken, vom Staat und von der Politik im Stich gelassen zu werden. "Ich kenne dieses Gefühl. Als Bürgermeister habe ich jeden Tag dagegen angekämpft", sagt Espie. Trotzdem habe er den Rückzug des Staats nicht verhindern können. "Gendarmerie, Schulaufsicht und bald auch die Finanzverwaltung, alles sperrt zu. Was bleibt hier dann noch übrig?"

Der linke Republikanismus, wie ihn Espie verkörpert, war stets Garant für die Präsenz des Staates noch im hintersten Winkel des Landes und er war offen für Fremde. Franzose zu sein, ist ein Willensakt, der sich über die Aneignung von Sprache und Kultur vollzieht. Der Ort, an dem dies in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geschehen soll, ist die republikanische Schule.

Bekiffte Eltern in der Schule

Doch die Schule ist zur Kampfzone geworden. Cyril Peron kann ein Lied davon singen. Der 46-jährige ist Grundschullehrer in den Problemvierteln von Avignon, Carpentras und Cavaillon in der Provence. "Das sind Viertel, wo es im Unterschied zu vor 30 Jahren keine soziale Durchmischung mehr gibt. Der Migrantenanteil ist hoch. Da sie daheim nicht Französisch sprechen, haben die Kinder große kulturelle und sprachliche Rückstände. Konflikte arten rasch in Gewalt aus - auch vonseiten der Eltern." Diese würden nicht selten bekifft in der Schule erscheinen. Der hohe Drogenkonsum schädige die Kinder bereits im Mutterleib. "Die Fälle von geistigen Beeinträchtigungen häufen sich." Im Vorjahr wurde Peron in Cavaillon Zeuge einer Schießerei vor der Schule. "Plötzlich krachte es." Die Polizei führte eine Razzia durch. "Wir mussten stundenlang im Klassenzimmer ausharren. Die Kinder waren gar nicht verängstigt. Irgendwie schienen sie solche Vorkommnisse gewöhnt zu sein."

Augenzeuge einer Schießerei: Lehrer Cyril Peron.
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Eigene Gesetze in Banlieus

Cyril erzählt mir keine Märchen. Wir kennen einander seit vielen Jahren. Seine Eltern Edith und Alain sind meine ältesten Freunde in Frankreich. Wir sitzen im Garten seines Bauernhauses in Le Thor, einer Kleinstadt östlich von Avignon. Cyril schweigt eine Weile: "Ich stelle in diesen Vierteln auch eine Radikalisierung fest. Die Frauen in den muslimischen Gemeinschaften sind voll verschleiert, die Männer tragen Bärte und bodenlange Kleider. Das ist jetzt ein wenig subjektiv, aber mein Eindruck ist, dass sich diese Leute gar nicht integrieren wollen. Sie leben unter sich mit ihren eigenen Gesetzen in Vierteln, in die sich die Polizei nicht mehr wagt. Und die Politik kehrt die Probleme unter den Teppich. Sie tut, als ob alles in Ordnung wäre. Ja, jeder, der öffentlich sagt, dass die Zuwanderung Probleme schafft, wird als Rassist verunglimpft."

Ich fahre nach Cavaillon, um mir das Problemviertel anzusehen, in dem Cyril unterrichtet hat. Im Sommer hat es dort bei Schusswechseln zwischen verfeindeten Drogengangs Tote gegeben. Mein Aufenthalt im "Quartier Dr Ayme" endet, kaum hat er begonnen. "Hau‘ ab sonst wird es gefährlich für dich", drohen mir zwei junge Männer.

Alain und Edith empfangen mich herzlich wie immer. Sie waren beide Grundschullehrer in Le Thor, gute, weltoffene, laizistisch gesinnte Leute, beseelt vom humanistischen Ideal, die Kinder bestmöglich auf das Leben vorzubereiten. Jetzt sind sie froh, in Pension zu sein. "Die Lage in den Banlieues ist eine Katastrophe. Ich fürchte, was in Vierteln wie dem "Dr Ayme" in Cavaillon geschieht, ist unumkehrbar", sagt Alain. Er spricht es nicht aus, aber erst diese Verwerfungen bereiten den Boden für Politiker wie Marine Le Pen und Eric Zemmour.

Am Abend steigen wir hinauf zum verfallenen Schloss von Thouzon, das er Sommer für Sommer mit jungen Freiwilligen restauriert. Es ist kalt. Der Mistral fegt durch das alte Mauerwerk. In der Ferne leuchtet weiß der Gipfel des Mont Ventoux, ehe die Nacht auf das verwundete Land herabfällt.

Stefan Winkler ist Redakteur und Mitglied der Chefredaktion der "Kleinen Zeitung".