Zum Hauptinhalt springen

Das Ende der russischen Siegesgewissheit

Von Ronald Schönhuber

Politik
Die Ukraine verfügt über weniger Panzer als Russland, setzt diese aber konzentriert ein.
© reuters / Awad

Die Ukraine stößt mit einer Überraschungsoffensive weit vor, selbst Russlands Propagandisten sprechen von schweren Verlusten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

In den vergangenen Monaten waren die russischen Militärblogger trotz gelegentlicher Unmutsäußerungen stets auf Linie gewesen. Wie in den abendlichen Talkshows im Staatsfernsehen, in denen Kreml-Chefpropagandist Wladimir Solowjow mit seinen Gästen nicht nur die angeblichen russischen Erfolge feiert, sondern Europa schon auch Mal mit einem Atomkrieg droht, gab es auf den oft mehrere 100.000 Follower zählenden Accounts, die Namen wie WarGonzo oder Starshe Eddy tragen, keinen Zweifel daran, dass Russland in der Ukraine letzten Endes triumphieren wird.

Doch seit die ukrainischen Truppen vor einigen Wochen damit begonnen haben, gegnerische Munitionsdepots, Kommandoposten und Brücken in der besetzten Region Cherson und auch auf der Krim mit weitreichenden Raketenattacken ins Visier zu nehmen, ist die Siegesgewissheit auf den Telegram-Kanälen der Militärblogger verschwunden. Denn die vor allem mit den amerikanischen Himars-Systemen geführten hochpräzisen Angriffe treffen die Russen an ihren verwundbarsten Stellen. So müssen Munitionsdepots und Flugabwehrsysteme, wenn sie nicht getroffen werden sollen, weit hinter die Frontlinie zurückgezogen werden, was nicht nur dazu führt, dass die Ukraine nun ihre Bayraktar-Drohnen und die verbliebenen SU-25-Erdkampfflugzeuge wieder zum Einsatz bringen kann. Für Russland, das seine Logistikprobleme seit Kriegsbeginn nie wirklich in den Griff bekommen hat und an einem Mangel an Militär-Lkw leidet, bedeutet das auch, dass die Fahrten zur Munitionsversorgung der Artillerieeinheiten nun doppelt oder drei Mal so lange dauern und daher entsprechend seltener stattfinden. Ganz zu schweigen von der Gefahr, dass die 20.000 bis 30.000 russischen Soldaten am westlichen Ufer des Dnepr durch eine Zerstörung der wenigen über den Fluss führenden Brücken vom Nachschub abgeschnitten und eingekesselt werden könnten.

Russen eingekesselt

Seit Mitte dieser Woche ist auf den Telegram-Channel der russischen Militärblogger aber nicht nur die Siegesgewissheit dahin. Auf vielen der Telegram-Kanäle, die sich oft direkt auf Berichte von russischen Frontsoldaten stützen, wird spürbar schockiert von den tiefen ukrainischen Vorstößen bei der überraschenden zweiten Gegenoffensive in der Nähe der Millionenstadt Charkiw und schwersten russischen Verlusten berichtet. So sollen die ukrainischen Truppen bis Donnerstag mit mechanisierten Einheiten zumindest 40 Kilometer Richtung Südosten vorgestoßen seien und dabei zahlreiche besetzte Ortschaften befreit haben.

Der Vormarsch, bei dem offenbar auch die russischen Besatzer in der Kleinstadt Balaklija eingeschlossen wurden, zielt offenbar auf das noch ein paar Kilometer weiter entfernt liegende Kupjansk. Die Stadt gilt aufgrund des dort befindlichen Eisbahnknotens als strategisch wichtig für den Nachschub der russischen Truppen, die von Norden aus den Donbass bedrohen. Bringen die Ukrainer Kupjansk dauerhaft unter Kontrolle, dürfte es für die russischen Truppen kaum noch möglich sein, das Kriegsziel von Präsident Wladimir Putin zu erfüllen und nach Luhansk auch den Oblast Donezk vollständig zu erobern.

Neue Militärhilfe für Kiew

"Der Feind hat mit relativ wenigen Kräften beträchtlichen Erfolg bei Balakliia ... es sieht so aus, als hätten die russischen Kräfte diesen Vorstoß verschlafen und ihn anderswo erwartet", schrieb der Militärblogger Juri Podoljak, der mehr als 2,1 Millionen Follower hat, auf seinem Telegram-Kanal.

Tatsächlich dürften es die Ukrainer ausgenutzt haben, dass die russische Armeeführung wegen der Gegenoffensive im knapp 500 Kilometer entfernten Cherson großen Mengen an Truppen und Material dorthin verlegen hat lassen. Zurück an der ausgedünnten Front blieben vor allem Truppen der eigentlich für die Niederschlagung von Volksaufständen konzipierten Rosgwardija und Einheiten aus den selbsternannten Volksrepublik Donezk und Luhansk, die aber beide wenig Erfahrung beim Einsatz von schweren Waffen haben.

Gute Neuigkeiten gibt es aus der Sicht der Ukraine aber nicht nur von der Front. So haben die USA beim Treffen der Verteidigungsminister und Militärvertreter aus mehr als 50 Ländern auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein weitere Waffenlieferungen in Höhe von 675 Millionen Dollar angekündigt. In Kiew versprach US-Außenminister Antony Blinken bei einem Überraschungsbesuch weitere Kredite und Bürgschaften in Höhe von zwei Milliarden Dollar für die Ukraine und deren Nachbarn.