Teile des gefrorenen Bodens könnten nach und nach auftauen.
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Berlin. So weit das Auge reicht, erstreckt sich in Sibirien über viele tausend Kilometer die Tundra, mit ihren kleinen Gruppen von zwergwüchsigen Lärchen und Kiefern auf einem mit schütteren Kräutern bewachsenen Boden, oder weiter im Süden die Taiga mit ihren endlosen Nadelwäldern. Die dauernd gefrorenen Böden unter dieser Landschaft im hohen Norden Asiens bereiten Forschern allerdings einiges Kopfzerbrechen: Bei welchen Klimawerten beginnen sie zu tauen? Und welche Mengen des dort festgehaltenen Kohlenstoffs setzt der Untergrund dabei als Treibhausgase Kohlendioxid und Methan frei, die so den Klimawandel zusätzlich anheizen können?
Den Antworten auf diese Fragen kommen Anton Vaks von der University of Oxford in England, Oxana Gutareva von der russischen Akademie der Wissenschaften in Irkutsk und Sebastian Breitenbach von der Eidgenössisch-Technischen Hochschule in Zürich mit einer Analyse von Tropfsteinen aus Sibirien und aus der Wüste Gobi in der Fachzeitschrift "Science" ein wenig näher.
Kalk und Uransalze
Wie überall auf der Welt entstehen Tropfsteine aus Kalkwasser. Es tropft aber nur dann durch den Untergrund, wenn die Temperaturen über dem Gefrierpunkt liegen. In Dauerfrostböden entstehen also keine solchen Mineralien. Das Alter der einzelnen Schichten von Tropfsteinen verrät den Forschern, dass zur gleichen Zeit kein Dauerfrostboden die Höhle umgeben konnte. Die Uran-Thorium-Datierung wiederum ermittelt zuverlässig, wann eine Tropfsteinschicht gewachsen ist. Ausgangspunkt der Methode ist das natürliche Isotop Uran-238. Die Hälfte davon ist nach knapp 4,5 Milliarden Jahren zu Uran-234 zerfallen, von dem sich wiederum die Hälfte nach 245.500 Jahren in Thorium-230 verwandelt, das seinerseits mit einer Halbwertszeit von 75.380 Jahren zu Radium zerfällt.
Da Uransalze sich in Wasser lösen, Thoriumsalze aber nicht, kann das Kalkwasser ausschließlich Uran, aber nicht Thorium in den Tropfsteinen ablagern. Das Thorium an den Untersuchungsorten ist daher nach dem Entstehen der jeweiligen Schicht entstanden. Messen die Forscher also genau den Gehalt an Uran-238, Uran-234 und Thorium-230, können sie das Alter von Tropfsteinschichten präzise bestimmen.
Untersucht hat das Team die Kalkablagerungen aus sechs Höhlen im Süden Sibiriens und in der Wüste Gobi in der Mongolei. Die nördlichste Höhle liegt rund 700 Kilometer nordöstlich des Baikalsees am Ufer des Lena-Stroms etwa auf dem 60. Breitengrad. Dort beginnt heute der kontinuierliche Permafrostboden, in dem mehr als 90 Prozent des Untergrunds bis in eine Tiefe von 50 Metern gefroren sind. Die zweite Höhle befindet sich vielleicht 100 Kilometer westlich des Baikalsees in einem Boden, der heute zu 50 bis 90 Prozent gefroren ist. Die dritte Tropfsteingruppe kommt knapp fünf Kilometer vom Südufer des Baikalsees entfernt aus einem Untergrund mit nur vereinzelten gefrorenen Bereichen. Alle drei Höhlen in der Mongolei liegen dagegen eindeutig außerhalb des heutigen Permafrostbereichs.
Die Tropfsteine in den beiden Höhlen in der Umgebung des Baikalsees wuchsen in den vergangenen 450.000 Jahren jeweils in den bekannten wärmeren Epochen einschließlich der letzten 10.000 Jahre. In der Mongolei fanden die Forscher in dieser Zeit keinerlei Wachstum bei den Tropfsteinen: Dort waren die Niederschläge zu gering und die Verdunstung zu hoch, um Kalkwasser durch den Untergrund fließen zu lassen.
Kohlendioxid-Lager
In der nördlichsten Höhle, die heute im Permafrostboden liegt, wuchsen die Tropfsteine in der letzten halben Million Jahre in nur einer einzigen Periode: als vor 424.000 bis 374.000 Jahren eine ungewöhnlich lange warme Epoche die Kaltzeiten mit Temperaturen unterbrach, die weltweit vermutlich rund 1,5 Grad Celsius über den Werten vor Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert lagen. Die Forscher vermuten daher, dass damals größere Bereiche des heute gefrorenen Bodens auftauten.
Insgesamt sind allein in den obersten drei Metern Permafrost 1700 Milliarden Tonnen Kohlenstoff gelagert. Welche Mengen davon als Treibhausgase Kohlendioxid oder Methan aus auftauenden Permafrostböden in die Luft blubbern könnten, ist schwer zu schätzen. Am ehesten können das wohl Wissenschafter wie Martin Heimann vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie. Er misst am Kolyma-Fluss im Nordosten Sibiriens, welche Mengen Treibhausgase dort heute aus dem 700 Meter tief gefrorenen Boden kommen, wenn dessen oberste 30 Zentimeter sich im Sommer in Sumpf verwandeln.
Unternimmt die Menschheit nichts Wesentliches gegen den Klimawandel und betreibt weiterhin "business as usual", könnten in den kommenden 100 Jahren 200 Milliarden Tonnen Kohlenstoff aus den auftauenden Böden entwischen. "Verglichen mit den zehn Milliarden Tonnen Kohlenstoff, die wir Menschen schon heute jedes Jahr in die Luft blasen, fallen diese zusätzlichen Mengen aber nicht so sehr ins Gewicht", erklärt Heimann. Der schwarze Peter für den Klimawandel könne also kaum den Permafrostböden zugeschoben werden.