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Das Ende des Pazifismus

Von WZ-Korrespondentin Sonja Blaschke

Politik

Japan darf seine Verbündeten künftig mit Truppen unterstützen. Kritiker orten eine Vorstufe zur Remilitarisierung des Landes.


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Tokio. Die japanische Regierung unter Premierminister Shinzo Abe ebnete am Dienstagnachmittag durch eine Neuinterpretation der Nachkriegsverfassung von 1947 den Weg dafür, dass Japan in Zukunft Verbündeten im Angriffsfall militärischen Beistand leisten kann. Damit fällt per Kabinettsbeschluss eine jahrzehntelange Auslegung der Verfassung, nach der das "Recht auf Ausübung kollektiver Selbstverteidigung" nicht zulässig war. Die neue Verteidigungsstrategie bedeutet eine radikale Abkehr vom Pazifismus, wie er in Artikel 9 der japanischen Verfassung festgeschrieben ist: Darin verzichtet Japan darauf, je wieder Krieg zu führen und Konflikte mit Waffengewalt zu lösen. Wie bedeutsam dieser Artikel ist, zeigt nicht zuletzt die Nominierung der "Japaner, die den Artikel 9 bewahren" für den Friedensnobelpreis 2014.

Kritiker werfen Abe aufgrund seiner Vorgehensweise vor, die japanische Demokratie auszuhöhlen: Anstatt eine Verfassungsänderung formell durchzuführen, was politisch schwierig gewesen wäre, griff er zu dem Trick, die Verfassung neu zu interpretieren. Anstelle einer öffentlichen Diskussion darüber im Parlament fiel die Entscheidung hinter verschlossenen Türen in Verhandlungen mit dem lange skeptischen Koalitionspartner New Komeito. Seiichiro Murakami, der seit 30 Jahren für Abes LPD im Unterhaus sitzt, ging vor kurzem sogar so weit, das Vorgehen des Premiers mit jenem von Adolf Hitler in den 1930er Jahren zu vergleichen. Damals wurde die demokratische Weimarer Verfassung auf dem Papier beibehalten, jedoch durch die "Reichstagsbrandverordnung" weitgehend außer Kraft gesetzt.

Auch in der Bevölkerung sorgte die Neuinterpretation der Verfassung für breite Kritik. Viele sehen darin eine Vorstufe zur Entsendung japanischer Soldaten in Kriegsgebiete. Abe betonte in einer Pressekonferenz am Dienstag, Japans Armee, die vor 60 Jahren gegründeten "Selbstverteidigungsstreitkräfte", würden zum Beispiel nie im Irak kämpfen. Die Frage, welches Risiko japanische Soldaten fortan trügen, ließ er unbeantwortet. Stattdessen betonte er, dass er das Leben der Japaner schützen wolle. Ohnehin dürfe Japan nur unter bestimmten Bedingungen die kollektive Selbstverteidigung ausüben, etwa wenn eine "klare Gefahr" für das Leben der Bürger bestehe. Kritiker monieren jedoch, dass der Begriff zu viel Interpretationsspielraum lasse. Vor Abes Amtssitz skandierten tausende Demonstranten: "Wir wollen keinen Krieg."

Auch die Opposition ist in der Sache gespalten: Einige Abgeordnete sprachen von Staatsstreich und Verfassungsbruch, andere drückten ihre Zustimmung aus. Die Mehrheit kritisierte die Eile: Der Beschluss wurde gerade sechs Wochen lang unter den Koalitionspartnern LDP und New Komeito diskutiert. Warum so schnell, wurde ein leitender New-Komeito-Vertreter befragt: "Weil es der Premierminister so wollte", sagte er dem privaten Fernsehsender TBS.

Fortsetzung der Eiszeit

Als Grund für die Neuorientierung Japans nennt Abe das gewandelte Sicherheitsumfeld und spielt damit vor allem auf das militärisch erstarkte China an. Zugleich kommt Japan damit seinem wichtigsten Verbündeten, den USA, entgegen. Washington fordert seit Jahren, dass Japan sein Recht auf kollektive Selbstverteidigung ausübt. Den eigentlichen Hauptgrund für den Schritt des Premierministers sehen Beobachter allerdings in Abes Wunsch, Japan wieder als starke Nation auftreten zu lassen.

Außenpolitisch kündigt sich mit der Neuausrichtung jedenfalls eine Fortsetzung der Eiszeit mit den Nachbarn China und Südkorea an. Dort wird die Abkehr Japans vom Pazifismus gleichgesetzt mit einer Rückkehr zur alten Militär- und Kolonialnation Japan. Ein chinesischer Sprecher warf Japan vor, China als Aggressor hinzustellen. In Südkorea war die Reaktion mit Rücksicht auf die USA, die eine Aussöhnung von Südkorea und Japan fordern, zurückhaltender: Japan solle Südkorea, wenn es beabsichtige, sein Recht auf kollektive Selbstverteidigung auszuüben, vorher in Kenntnis setzen.

Die Debatte über eine eventuelle Remilitarisierung des Landes wirft zudem ein Schlaglicht auf die japanische Medienlandschaft. Während sich im Internet, vor allem in sozialen Medien wie Twitter und Facebook, kritische Stimmen über die Entscheidung Abes häufen, wachsen die Zweifel an Japans wichtigstem Nachrichtenmedium, dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender NHK. Seit der Sender vor knapp einem halben Jahr von einem engen Vertrauten Abes übernommen wurde, wollen die Gerüchte über eine Zensur der Nachrichtensendungen nicht verstummen.

"Typisch NHK"

Schon die in Japan ungewöhnliche Selbstverbrennung eines Mannes aus Protest gegen die Regierung am Sonntag war NHK keine Nachricht wert. Anstatt einen Tag danach über zehntausende Demonstranten vor dem Amtssitz Abes zu berichten, wurden lediglich die wenigen tausend gezeigt, die sich am Vormittag vor dem Beschluss dort einfanden. "Typisch NHK", kritisierte ein Twitter-Nutzer. Der Privatsender TV Asahi, der mit der gleichnamigen Tageszeitung zu den wenigen vergleichsweise regierungskritischen Medien gehört, berichtete hingegen ausführlich über die Proteste und ließ mehrere LDP-Vertreter zu Wort kommen, die Abes Vorgehen scharf kritisierten. Und in einem Leitartikel am 1. Juli schrieb die Zeitung "Asahi Shimbun": "Japan wird eine Nation werden, die mit anderen Ländern Krieg führen kann. Es wird eine Nation sein, in der das jeweilige Kabinett die Verfassung so interpretieren kann, wie sie ihr gerade passt."