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Das Ende des Schweigens

Von Brigitte Pechar

Politik

Der Bundeskanzler argumentiert den Schwenk der Regierung im Fernsehen mit der zu erwartenden hohen Flüchtlingszahl. Eine Analyse.


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Wien. Willkommenskultur - Richtwert/Obergrenzen - Grenzen dicht. Der Flüchtlingsandrang seit dem Sommer 2015 stellt die Menschen und die Politik in diesem Land vor enorme Herausforderungen. Die Bundesregierung hat im Jänner eine Kehrtwende vollzogen: Aus den Gleichklang mit Deutschland wurde ein Alleingang Österreichs. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) war in dieser Angelegenheit zwar international viel unterwegs, hat auch in ausländischen Medien Stellung genommen - in Österreichs Medienlandschaft war vom Bundeskanzler aber wenig dazu zu vernehmen, auch "ZiB"-Auftritte hat der Kanzler in seiner mehr als siebenjährigen Kanzlerschaft nahezu völlig gemieden.

Am Sonntag hat Faymann nun diese Kehrtwende der Regierung von einer Willkommenskultur zu einem "Grenzen dicht"-Kurs in der ORF-Sendung "Im Zentrum" versucht zu erläutern.

Die Debatten im Vorfeld dazu waren geprägt von der Frage, ob der ORF dem Kanzler so breiten Raum zubilligen darf. Von "Bestellfernsehen" war die Rede, besonders die ÖVP war empört. ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka nimmt den ORF-Auftritt des Kanzlers sogar zum Anlass, um alle Nationalratsfraktionen am Mittwoch am Rande der Nationalratssitzung zu einem Gespräch über den öffentlich-rechtlichen Auftrag des ORF einzuladen. Nicht alle werden dieser Einladung Folge leisten.

Man könnte aber auch die Frage stellen, ob der Bundeskanzler mit der Einbindung der Bevölkerung nicht ohnehin schon allzu lange zugewartet hat. Immerhin haben die Sendung 600.000 Menschen verfolgt, der Zuseherdurchschnitt der heurigen "Im Zentrum"-Sendungen lag bei 454.000. Das zeigt, dass die Menschen interessiert sind am Thema und wissen wollen, was die Regierung plant. Zwar hat Faymann keine wesentlichen Strategien offengelegt, er hat allerdings die Geschlossenheit der Regierung in dieser Frage unterstrichen: Solange es keine europäische Lösung gibt, gilt für Österreich Plan B. Stören würde ihn nur "wenn die Regierung nicht an einem Strang ziehen würde". Hier verwies er auf den Gleichschritt mit Außenminister Sebastian Kurz und Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (beide ÖVP). Das habe dazu geführt, dass die übrigen EU-Regierungschefs das Ende des Durchwinkens beschlossen hätten ("Meine einzige Sorge ist, dass sie wieder aufmachen"). Dabei betonte Faymann, dass es in Österreich nicht an Solidarität mangle: Das Land habe 90.000 Flüchtlinge im Vorjahr aufgenommen. Den Richtungswechsel der österreichischen Flüchtlingspolitik erklärte Faymann mit dem auch heuer zu erwartenden noch größeren Andrang. Die Regierung habe sich daher darauf verständigt, heuer 37.500 Schutzsuchende aufzunehmen - würden alle EU-Staaten in diesem Maßstab im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung Menschen aufnehmen, könnte die EU heuer zwei Millionen Flüchtlingen Schutz bieten.

Der Flüchtlingsandrang beschert der EU die schwerste Krise ihrer Geschichte. Könnte diese Krise allein mit Geld behoben werden, gäbe es wohl eine Lösung. Aber die Flüchtlinge legen Ängste offen. Die Angst vor dem Fremden, die Sorge über eine völlige und rasche Veränderung des gesamten Kontinents - Grund genug, warum ein Kanzler die Bevölkerung in die Überlegungen der Politik einbezieht.

Flüchtlinge in einer so großen Zahl bringen die unterschiedlichen Wesenszüge Europas ans Licht, die Gemengelage ist dabei überhaus komplex: Da sind die ehemaligen osteuropäischen Staaten, die einen enormen ökonomischen Aufholprozess hinter sich haben und jetzt das mühsam Erarbeitete nicht gleich wieder teilen wollen. Da sind die südosteuropäischen Staaten, die ökonomisch den Anschluss an die EU noch nicht geschafft haben und mit sich selbst beschäftigt sind. Da sind die süd- und südwesteuropäischen Staaten, die die Finanzkrise gerade recht und schlecht bewältigen und deren Arbeitsmärkte noch immer rekonvaleszent sind. Und da sind die zentral- und nordeuropäischen Staaten - zumeist auch sogenannte Nettozahler -, die mit dem Schultern der Flüchtlingskrise alleine gelassen werden.

Die Antwort darauf, wie viele Flüchtlinge ein Land verträgt, generiert sich nicht zuletzt aus der gesellschaftlichen und kulturellen Offenheit und aus der ökonomischen Sicherheit eines Landes. Die Zahl hat die Regierung definiert. Den Kritikern von großen Flüchtlingsunterkünften riet der Kanzler, von Demonstrationen abzulassen, "weil sie Leute nur aufhusst". Und er betonte: "Österreich ist kein Platz für Hass."