Zum Hauptinhalt springen

Das Ende des Widerspruchs

Von Walter Hämmerle

Kommentare

Dagegen sein: Das war einmal eine einfache Sache, heute ist es fast unmöglich geworden.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Früher war mit Sicherheit nicht alles besser, aber einiges leichter. Zum Beispiel, Widerspruch zu üben, Opposition, schlicht dagegen sein. Das ist heute sehr viel schwieriger, manche finden sogar, es sei unmöglich geworden. Das hat natürlich Folgen und nicht nur für die Politik, sondern beispielsweise auch für die Sphäre der Kunst.

Der Maler Georg Baselitz konstatierte in einem Interview mit der "Zeit" das Dilemma folgendermaßen: "(. . .) die Künstler sind zu Interpreten innerhalb dieses Staates geworden, sie bewegen sich innerhalb seiner Gesetzmäßigkeit, und diese Gesetzmäßigkeit lässt keine wahre Opposition zu. Einst folgten die Künstler dem, was die Kirche ihnen befahl, heute folgen sie dem, was die Demokratie befiehlt. Damit aber geht das verloren, was Kunst wichtig macht: der Widerspruch."

Aus dieser Perspektive verwandelt sich der liberale Rechtsstaat mit seinem Pochen auf Gesetzestreue für jedermann und jederfrau zu einem goldenen Käfig der verlorenen Freiheit. Indem eine Gesellschaft fordert, dass sich auch die Opposition gegen sie im Rahmen der bestehenden Gesetze bewegt, nimmt sie Widerstand die Radikalität.

Diese Entwicklung ist ohne Zweifel ein zivilisatorischer Fortschritt in der gelebten Wirklichkeit und führt trotzdem zu einem philosophischen Rückschritt. Zwar darf über grundsätzliche Alternativen zur bestehenden Gesellschaftsordnung nachgedacht werden, gerne auch in schriftlicher Form; dem politischen Engagement in diese Richtung sind jedoch rechtsstaatliche Grenzen gesetzt.

Natürlich sind diese großzügig bemessen und enden oft dort, wo die Freiheit anderer in Gefahr gerät. Gleichwohl stehen die Institutionen dieses Staates unter einem Glassturz der Unantastbarkeit.

Nun ist es so, dass es Wut, Enttäuschung und Verunsicherung zu allen Zeiten gibt. Früher hätte sich die Unzufriedenheit mit dem "System" und seinen Eliten in einem Aufstand, in einer Revolution entladen. Im Erfolgsfall ist sodann das "Ancien Regime" von einem Sturm hinweggefegt und im Anschluss eine neue Ordnung erreichtet worden.

Doch was lässt sich heute "hinwegfegen", ohne das größere Ganze, die Idee unserer demokratischen Grundordnung, zu gefährden? Worin besteht überhaupt diese Grundordnung? Zählt dazu nur der normative Text des Bundes-Verfassungsgesetzes, der Republik, Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und, über Umwege, den Schutz der Menschenrechte festschreibt? Und steht alles andere wirklich zur Disposition?

Oder anders gefragt: Was lässt sich in Zeiten, in denen so viele so vieles so völlig anders machen wollen, wirklich noch ändern, ohne dass nicht irgendwer lauthals "Aushöhlung der Demokratie" ruft? Wofür kämpft jemand, der sich gegen das "System" auflehnt? Und wollen diejenigen, die diese Republik verteidigen, nicht mindestens so weitreichende Veränderungen am "System"? Es ist also völlig ungeklärt, was eine Revolution der Wütenden und Enttäuschten im Rahmen einer Demokratie bedeuten kann, ja bedeuten soll. Und das gilt auch für die Ideale der Gegenseite.

Widerspruch ist eine komplizierte Sache geworden.