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Das Ende einer liberalen Idee

Von Walter Hämmerle

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Der liberale Parlamentarismus kommt gleich von mehreren Seiten unter Beschuss.


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Echte Liberale, also solche ohne Präfix wie neo, links oder rechts, sitzen in der politischen Auseinandersetzung unserer Zeit zwischen allen Stühlen. Weil ihnen das Talent zum politischen Glauben fehlt, der die eine wie die andere Seite mit Emotionen befeuert. Liberale wissen, dass diejenigen, die das Beste wollen, oft Schlechtes bringen. Skepsis prägt ihr Menschenbild.

Deshalb "glauben" Liberale an Regeln, die sich nicht leicht, und jedenfalls nicht nach Belieben, ändern lassen; sie setzen auf Institutionen statt auf Retter und Charisma: Schon die Beliebtheit eines Politikers ist ihnen verdächtig.

Liberale betonen den Wert des Parlamentarismus als oberstes Entscheidungsverfahren. Diese Form der Demokratie anerkennt zwar das Wahlvolk als Souverän, ihr Kern besteht jedoch darin, dieses Volk abgesehen vom Wahlakt von den eigentlichen Entscheidungsprozessen fernzuhalten. Die Logik dahinter hat der Philosoph Rudolf Burger einmal in dem Satz zusammengefasst, dass alle großen Demokraten dem Volk im Interesse des Volks misstraut haben. So sehr Liberale den Einzelnen in der Verantwortung sehen, so sehr misstrauen sie der Ansammlung von Einzelnen, wenn diese zur Masse werden.

Doch die neuen technischen Möglichkeiten verwandeln die Masse dank Facebook, Twitter und Co wieder zurück in eine Vielzahl einzelner Individuen. Wer ständig kommuniziert, will gehört werden. Deshalb, und weil die Parteien als wichtigste Träger der parlamentarischen Idee einen Vertrauensverlust erleben, tönt von allen Seiten der Ruf nach mehr direkter Demokratie, nach einem neuen Verhältnis zwischen Bürgern und Politik.

Darüber muss man reden, zumal das Gros der bisher 39 durchgeführten Volksbegehren nicht von engagierten Bürgern, sondern auf Umwegen von der einen oder anderen Partei gestartet wurde. Es gibt also gute Argumente für eine stärkere Einbindung der Bürger. Man kann ja auch schwer in Sonntagsreden das Hohe Lied auf den mündigen Staatsbürger und seine zentrale Rolle singen und werktags aus Sorge vor den unberechenbaren Stimmungen der Massendemokratie den Menschen jeden Einfluss auf Sachfragen verweigern.

Allerdings haben die Befürworter der direkten Demokratie zuletzt einige Rückschläge erlitten: Das Brexit-Votum, bei dem 51,9 Prozent der Briten für den EU-Austritt stimmten, wird wohl als Musterbeispiel einer von Lügen und Halbwahrheiten geprägten Abstimmungen in die Geschichte eingehen. Das macht das Votum nicht illegitim, aber es zeigt die Herausforderung, komplexe Themen in einer emotional aufgewühlten Situation zu diskutieren.

Kritik am liberalen Parlamentarismus kommt aber auch von der anderen Seite des politischen Spektrums. Man denke nur an die Euphorie, die der französische Widerstandskämpfer und politische Aktivist Stephan Hessel 2010 mit seinem Buch "Empört Euch!" auslöste, oder an die basisdemokratische Romantik von "Occupy Wall Street".

Die verbliebenen Anhänger des liberalen Modells sollten sich eingestehen, dass ihr Angebot heute nicht mehr die einhellige Akzeptanz findet. Möglich, dass sich die Ära der liberalen Repräsentation zu Ende neigt.