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Heimkinder und ihre Sorgen
Seit 1998 gedenkt Australien jedes Jahr am National Sorry Day dem Unrecht, das seinen Ureinwohnern durch eine verfehlte Sozialpolitik angetan wurde. Zwischen 1920 und 1969 wurden etwa 35.000 Aborigineskinder zwangsadoptiert. Die Politik sah vor allem die Notwendigkeit, Mischlingen - auch mit Gewalt - aus ihren Familien zu entnehmen, damit sie eine "Chance" bekämen, in der Obhut von Weißen zu assimilierten Mitgliedern der Gesellschaft zu reifen.
Das politische Umdenken dieses fast ein halbes Jahrhundert andauernden Irrweges und der Versuch einer Wiedergutmachung vollzogen sich innerhalb weniger Jahre. 1997 wurde der Abschlussbericht "Bringing Them Home" veröffentlicht. 2007 erging das erste Urteil, das einem ehemaligen Zwangsadoptierten eine Entschädigung von AUD 525.000,-- zusprach, was damals rund EUR 320.000,-- entsprach. 2008 entschuldigte sich der sozialdemokratische Premierminister Kevin Rudd umfassend für das den Aborigines angetane Unrecht.
2010 durchbrach in Österreich der Heimkinderskandal das mediale Schweigen. Seit 1969 hatte eine öffentliche Kritik gegen die menschenrechtswidrigen Zustände in staatlichen Kinderheimen stattgefunden. 1974 wurde der Bericht "Verwaltete Kinder", für den Irmtraud Karlsson als Wiener Landesbeamtin zwei Jahre recherchiert hatte, fertig gestellt. Mehr als die Hälfte der Heime mussten als Kindergefängnisse bezeichnet werden, wodurch Julius Tandlers Leitsatz, "Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder",
einen schalen Beigeschmack bekommt. Der Bericht wurde zensuriert, veröffentlicht und schubladisiert. Karlsson übersiedelte als Abgeordnete ins Parlament. 2011 erklärte der zuständige Wiener Stadtrat Christian Oxonitsch, der Bericht "Verwaltete Kinder" diene als wesentliche Grundlage für die eingesetzte Historikerkommission, die nur eine von mehreren Kommissionen bleiben sollte. In Landstraße gibt es noch immer die Maria-Jacobi-Gasse, benannt nach der damals für die Kinderheime verantwortlichen Stadträtin. Und es wäre - nur wegen des Namens und nicht wegen der dortigen Zustände - ein schlechter Treppenwitz der Lokalgeschichte, wenn ein ehemaliges Heimkind seine letzten Tage im Seniorenheim Maria Jacobi - Haus verbringen müsste.
Betroffenen wurden in der Regel Entschädigungen von EUR 15.000,-- bis maximal EUR 25.000,-- ausbezahlt. Die Übergriffe waren teilweise so brutal, dass sie hier nicht publiziert werden können. Die menschliche Phantasie in Sachen Quälen - nicht zuletzt sexuell - kennt keine Grenzen.
Nicht einmal angedacht wurde:
a) eine Aufarbeitung der Geschichte der Heime, insbesondere das Fortwirken des nationalsozialistischen Gedankenguts lange über 1945 hinaus,
b) eine umfassende Entschuldigung und das Übernehmen der Verantwortung, und
c) eine angemessene Entschädigung zu leisten.
Die längere Reminiszenz soll zeigen, vor welch unaufschiebbaren und dringenden Aufgaben die Jugendwohlfahrt steht. Bis auf einige marginale Verbesserungen scheinen sich die bisherigen Reformen allesamt in Ankündigungen erschöpft zu haben, da beispielsweise 2014 der sexuelle Missbrauch in den Grazer Wohngemeinschaften der Jugendämter nur durch deren Schließen zu verhindern war. Die Pressesprecherin der Jugendämter forderte für diesen Skandal mit dem Hinweis, die Jugendamtswohngemeinschaften seien eben keine Gefängnisse, Verständnis für die Tat. Dieses Argument greift allerdings nicht, da sexueller Missbrauch an jugendlichen Häftlingen effizienter verfolgt und abgestellt wird.
Als Notlösung wurde das Outsourcing in der Jugendwohlfahrt verstärkt. Outsourcing bedeutet aber auch weniger Kontrolle und Sicherheit für die Kinder. Mit Erfolg ausgelagert wird scheinbar nur die Verantwortung. Während Privatunternehmen für das Betreuen von Schubhäftlingen als inadäquat kritisiert werden, finden es die Medien unbedenklich, traumatisierte Kinder privaten Vereinen anzuvertrauen.
In Österreich gibt es mehr aus Familien entnommene Kinder als Häftlinge. Natürlich ist deren Auffangen und Fördern eine Geldfrage. Experten sind sich aber einig, dass das derzeit zur Verfügung gestellte Geld reichen würde, wenn es im Rahmen einer einheitlichen Bundesbehörde eingesetzt werden würde.
Hier könnte die Regierung eine der schon seit Generationen angekündigten Reformen angehen. Das nichtvorhandene Budgetloch, die Steuerzahler und vor allem die Kinder würden es ihr danken. In einem wäre der Parteieneinfluss, der bei Landesbehörden als stärker vermutet wird, eingedämmt.
Trennungskinder und ihre Sorgen
Jetzt könnte man meinen, nur der optimale Umgang mit Heimkindern sei für neun separate Landesbehörden schwierig. Leider hat die Jugendwohlfahrt aber auch keine Lösung für Kinder bei strittigen Trennungen. Die Familie, deren Grundpfeiler vor hundert Jahren in der Bundesverfassung geregelt worden sind, existiert heute nicht mehr. Auf die Jugendwohlfahrt kamen Probleme zu, denen sie einfach nicht gewachsen ist. Es ist daher nur zu verständlich, dass sich als Notlösung eine standardisierte Vorgangsweise etabliert hat, die zwar einen halbwegs geregelten Ablauf, aber kein Eingehen auf die Bedürfnisse der einzelnen Kindes gewährleistet. Die Politik ist sich dieser Gefahr, Trennungskindern aus strittigen Familien und Partnerschaften ihre Gegenwart und Zukunft, wenn schon nicht zu nehmen, so doch zumindest zu erschweren, bewusst. 2013 versuchten Frau BM Karl und Frau BMin Heinisch-Hosek Abhilfe zu schaffen, doch erwies sich die Reform mangels Konsenses weniger als ein Meilenstein der Verwirklichung des Kindeswohls, als ein Meilenstein der Ankündigung und Phrasen.
Überspitzt könnte ein gerichtlicher Obsorgestreit als ein Spiel gesehen werden, in dem die Mutter das Ass, die Gutachter der Zehner, das Jugendamt der König, die Familie der Mutter die Dame und der Vater der Bube sind. Atout bleibt immer die Richterin und das Bummerl bekommen stets, obwohl sie gar nicht mitspielen dürfen, die Kinder.
Die derzeitigen Rahmenbedingungen erlauben es keiner Richterin, uneingeschränkt im Interesse des Kindeswohls zu entscheiden. Es ist unerträglich, wenn beispielsweise in einem Fall ein Richter eingesteht, es gebe drei Möglichkeiten für ein Kind: bei der Mutter zu bleiben, zum Vater oder in ein Heim zu kommen - und alle drei widersprechen dem Kindeswohl. Vor allem weil es grundsätzlich eine Geldfrage ist, für jedes Trennungskind ein optimales Umfeld zu schaffen. Österreich ist reich genug, um sich Kinder in Not anzunehmen. Aus Studien in den USA weiß man, dass 95% der Steuermittel, die für Krisenfamilien aufgewendet werden, für deren endgültige Zerschlagung verwendet werden. Auch wenn die klassische Familie von Teilen der Politik aufgegeben worden ist, so sollte das Begleiten eines Kindes in seiner schwierigsten Zeit, wenn seine bisherige Welt vernichtet worden ist, durch Mutter und Vater (und allen anderen Verwandten und Bekannten) oberstes Gebot sein.
Privatinitiativen
Viele betroffene Eltern wehren sich gegen allzu einseitige Entscheidungen und die daraus resultierende Entfremdung, wobei sich die meisten durch den Verlust ihres Kindes in einer Ausnahmesituation befinden, die ihnen kein strukturiertes Vorgehen ermöglicht. Meist steht der Wille zum Agieren mit der Möglichkeit dafür in keiner ausgewogenen Relation. Die aktiven Gruppen sind dementsprechend klein und leicht überseh- und überhörbar. Trotzdem werden immer wieder anspruchsvolle Veranstaltungen verwirklicht, wie das Verfassen von Büchern, Podiumsdiskussionen mit Experten, aber auch mit Landes- und Bundespolitikerinnen, oder Symposien mit internationalen Fachleuten.
Das Ende eines Hungerstreiks
Daneben gibt es auch mehr oder weniger ernst gemeinten Aktionismus, wie unseren Hungerstreik vom 13. Mai bis 27. Mai in Wien.Über seinen holprigen Beginn wurde freundlicherweise schon einmal ein Leserbreif online gestellt. Die erste Woche, die wir in einem notdürftigen Zelt auf dem Christian-Broda-Platz hungerten, wird uns lange in Erinnerung bleiben. Man lernt Wien und seine Bewohner aus einer neuen Sichtweise kennen. Die Erfahrungen waren für jeden unterschiedlich. Interessant fand ich die Bestätigung eines Vorurteils für mich. Frauen waren für unser Anliegen, Kinderrechte zu stärken, auch dann offen, wenn weder sie noch ihnen nahestehende Personen in irgendeiner Weise davon betroffen waren. Frauen fand das Thema an sich diskussionswürdig. Männer äußerten meist nur dann ihre Ansichten, wenn sie die Problematik des Umsetzens der Kinderrechte aus der Nähe erlebt haben.
Die zweite Erfahrung ist Gemeingut und dennoch der eigentliche Grund meines Leserbriefs. In Wien wird - nicht immer amikal - jede zweite Ehe geschieden. Vom Unvermögen der Gerichte und Behörden, für Trennungskinder die optimale Lösung zu finden, sind daher Tausende betroffen. Der Schmerz, neben seinem bisherigen Daheim, auch seine Kinder zu verlieren, ist groß. Er ist offensichtlich so groß, dass ihn viele verdrängen. Die meisten arrangieren sich mit ihrem neuen, unvollständigen Leben, manche zerbrechen daran. Aber wie sollen Kinder unsere Familienrechtsverfahren verstehen, mit ihnen fertig werden, wenn nicht einmal wir, die wir diese Verfahren führen, sie verstehen und mit ihnen fertig werden?
Der Hungerstreik hat geendet, wie er begonnen hat und verlaufen ist. Weitgehend unbemerkt. So unbemerkt wie zig-tausende Trennungskinder, die in billigen Gerichtsverfahren untergingen, untergehen und untergehen werden; ohne Beachtung durch die Medien, ohne Reformwille der Politik, ohne gemeinsame Anstrengung der EU zu helfen. Trennungskinder dürfen keine lästigen Kollateralschäden einer mit sich selbst beschäftigten Gesellschaft, desinteressierter Politiker, selbstverliebter Jugendämter und selbstgerechter Richterinnen sein.
Dafür ist aber vor allem Eines notwendig: Lasst uns darüber reden!
wienerhungerstreik.blogspot.co.at