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Das Ende eines Papiertigers

Von Siobhan Geets

Politik
Zahlreiche freiwillige Helfer versorgen Flüchtlinge am Westbahnhof mit Wasser und Lebensmitteln.
© Stanislav Jenis

Dublin-Regeln scheitern an der Realität: Ein Bericht vom Westbahnhof.


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Wien. Der Westbahnhof wird zum Massenabfertigungszentrum für die Weiterreise von Flüchtlingen nach Deutschland. NGOs, ÖBB und unzählige Freiwillige sorgen für ihre Verpflegung, die Polizei winkt sie weiter.

Die ÖBB hat am Bahnsteig 1 zusammen mit freiwilligen Helfern und NGOs wie der Caritas bereits am Montag ein notdürftiges Hilfszentrum eingerichtet, wo es das Nötigste gibt: Lebensmittel, Babynahrung, Wasser und Hygieneartikel. Am Dienstag herrschte dort reges Treiben. Menschen halfen beim Schlichten und bei der Ausgabe, ein halbes Dutzend freiwillige Dolmetscher übersetzten vor allem auf Farsi und Arabisch.

Laut Polizeisprecher Roman Hahslinger ließen die ungarischen Behörden derzeit zwar nur "normale Reisende" in die Züge und "keine Flüchtlinge". Dennoch schafften viele die Reise nach Wien, nachdem der Budapester Ostbahnhof am späten Vormittag wieder aufgemacht hatte. "Wir waren nur sieben Flüchtlinge im Zug, weil die ungarische Polizei niemanden mehr durchlässt", sagt ein Syrer, der am Vormittag am Westbahnhof ankam. Für die in Wien Gestrandeten hat die ÖBB Räume zur Verfügung gestellt. In der Nacht hatten 500 Menschen am Westbahnhof übernachtet.

Von jenen rund 3600 Asylsuchenden, die in der Nacht auf Dienstag am Wiener Westbahnhof ankamen, sind fast alle Richtung Deutschland weitergefahren. Nur sechs Afghanen hätten einen Asylantrag in Österreich gestellt. Österreich ist nur ein Zwischenstopp zwischen dem von Flüchtlingen gefürchteten Ungarn und der Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland.

So steht der Westbahnhof in diesen Tagen symbolisch im Widerspruch zu Innenministerin Johanna Mikl-Leitners Forderung nach einem Festhalten an der Dublin-Verordnung. Hielte Österreich diese ein, so müssten die Flüchtlinge spätestens am Westbahnhof festgenommen und dann nach Ungarn zurückgeschickt werden. Das passiert nicht, im Gegenteil. Freiwillige Helfer berichten, die Polizei habe den Flüchtlingen am Montag sogar geholfen, die richtigen Züge nach Salzburg, also Richtung Deutschland, zu finden. Von der Polizei aufgegriffen wurden sie auch am Dienstag nicht. "Wir sind nur hier, um für Sicherheit zu sorgen und wenn nötig zu schlichten", sagt ein Beamter auf die Frage nach den heutigen Anweisungen für ihn und seine Kollegen.

So liegt das Wohl der Ankommenden in der Verantwortung der ÖBB - sie kümmert sich um ihre Verpflegung und Weiterreise nach Deutschland. Dasselbe gilt für die ungarischen Bahnen, auch sie erhalten keine Hilfe von der Regierung. "Die Bahnen werden von ganz Europa im Stich gelassen", fasst ein Insider die Situation zusammen.

Inzwischen kommen nochmal Leute aus Budapest an, eine Gruppe syrischer Kurden. Es sei sehr schwer gewesen, in Budapest in den Zug zu steigen, erklären sie. Sie mussten sich verstecken und unter den Reisenden verteilen, um den Augen der Polizei zu entgehen. Sie loben die österreichische Polizei und sagen, die ungarische sei sehr brutal gegen sie vorgegangen. Sie waren fünf Tage im Lager in Ungarn, die Polizei habe sie herumgeschubst und beschimpft: Geht doch zurück nach Syrien. Alle 17 wollen nun weiter nach München.

Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich gefordert

CDU-Politiker Gunther Krichbaum hat laut Nachrichtenagentur Reuters mittlerweile die EU-Kommission aufgefordert, Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Österreich zu prüfen. "Es ist skandalös, dass Flüchtlinge nun ungeprüft und ohne Ausweiskontrolle nach Deutschland kommen", sagte der Vorsitzende des Europa-Ausschusses.

"Die Politik hat sich viel zu lange Zeit gelassen", sagt ein Freiwilliger - den Hals trägt er ein Stethoskop. Sonst ist er für das Bundesheer im Einsatz, Katastrophenhilfe im Ausland. Dass seine Hilfe so bald hier in Österreich gefragt ist, hätte er nicht gedacht. "Schade, dass gerade Österreich mit seiner bewegten Geschichte jetzt solche Schwierigkeiten hat. Mein Vater ist 1956 aus Ungarn geflohen, damals hat die Versorgung auch geklappt."

Kurz nach Mittag trifft die grüne Vize-Bürgermeisterin Maria Vassilakou im Hilfszentrum ein. "Wir müssen jetzt vernünftig handeln und die Menschen weiterreisen lassen, sonst machen wir uns mitschuldig an den Toten, die zusammengepfercht in Lkw ersticken und verdursten", sagt sie.

Nicht nur die grüne Stadtpolitikerin hält das Dublin-Abkommen für "unmenschlich", auch der Politologe Thomas Schmidinger ist vor Ort und kritisiert den Umgang mit den Schutzsuchenden. "Die meisten europäischen Politiker wissen, dass Dublin nicht funktioniert", sagt Schmidinger, um ihn herum drängen sich Freiwillige, Dolmetscher und Journalisten. "Ich denke, unsere Innenministerin weiß das auch, aber sie kann es nicht laut sagen, weil es noch keine Ideen gibt, wie das System ersetzt werden kann."

Wie viele Experten fordert auch Schmidinger eine bessere Verteilung der Hilfesuchenden auf die EU-Staaten, etwa in Form eines Mitspracherechts bei der Frage, wo sie ihren Asylantrag stellen. Es fehle aber die Möglichkeit einer legalen Einreise in die EU. Schmidinger schlägt vor, das Botschaftsasyl wieder einzuführen oder EU-Büros in bestimmten Ländern einzurichten. Am Westbahnhof stellt niemand einen Asylantrag, alle Ankommenden wollen n weiterreisen: Frankfurt, Berlin, Köln, hört man da.