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Dilma Rousseff muss sich vorkommen wie im falschen Film. Dabei hätte sich alles so wunderbar entwickeln sollen, ja müssen, für Brasiliens linke Staatspräsidentin.
Am Donnerstag erfolgt der Anpfiff zur Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien, der mutmaßlich fußballverrücktesten Nation auf diesem Globus. Dem nicht genug, gilt die "Seleção", Brasiliens Nationalmannschaft, allgemein als Topfavorit. Und der heiß ersehnte sechste WM-Titel wäre natürlich die beste denkbare Wahlempfehlung für Rousseff, die sich am 5. Oktober der Wiederwahl stellen muss.
Doch statt dass eine ganze Nation der größten Sportveranstaltung freudig entgegenfiebert, muss Rousseff seit Monaten Polizei und Armee gegen wütende Demonstranten einsetzen, die statt milliardenschwerer Fehlinvestitionen (etwa ein neues Stadion mitten im Amazonas) eine bessere Grundversorgung im Gesundheits-, Wohn- und Verkehrsbereich einfordern.
Dabei schien die Entscheidung für Brasilien als Austragungsort für die Fußball-WM 2014 endlich wieder eine glückliche Wahl für ein sportliches Mega-Event. Zuletzt konnte man ja durchaus den Eindruck gewinnen, dass nur noch autoritäre, aber zahlungswillige Bewerber den Zuschlag für Olympische Spiele oder Fußball-Weltmeisterschaften erhalten. Peking 2008, Sotschi 2014 oder Katar 2022, das nun jedoch gefährlich wackelt, belegen diesen Verdacht. (Der Formel-1-Zirkus verfolgt seit Jahren übrigens die gleiche Strategie, derzeit wird im immens gasreichen, aber demokratiepolitisch anrüchigen Aserbaidschan ein Grand-Prix-Kurs aus dem Boden gestampft.)
Wladimir Putin und Chinas KP konnten im Innern von der Ausrichtung sportlicher Großevents profitieren, egal, ob die Milliardensummen sinnvoll investiert wurden oder nicht. Für demokratische Regierungen scheint dagegen die Rechnung immer seltener aufzugehen, zumal, wenn die Mehrheit der Bürger das Gefühl nicht loswird, zu den wirtschaftlichen Verlierern zu zählen. Rousseff in Brasilien muss diese Erfahrung gerade machen.
Höchste Zeit, dass Regierungen erkennen, dass mit Brot und Spielen in Demokratien heutzutage keine politische Legitimität mehr zu erkaufen ist. Das könnte man mit Fug und Recht als demokratiepolitischen Meilenstein bezeichnen. Immerhin hat das Prinzip 2000 Jahre lang funktioniert.