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Das Erbgut der Urahnen

Von Roland Knauer

Wissen
Vor rund 400.000 Jahren lebten Frühmenschen dieses Aussehens im Norden Spaniens.
© Javier Trueba/Madrid Scientific Films

Forscher: "Geschichte der Menschheit ist viel komplizierter als bisher gedacht!"


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Berlin. Mit einem doppelten Paukenschlag im Fachblatt "Nature" wirbeln Matthias Meyer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und seine Kollegen die Frühmenschenforschung durcheinander. Die Wissenschafter analysieren nicht nur mit raffinierten neuen Techniken zum ersten Mal das Erbgut unserer Urahnen, die lange vor den rund 200.000 Jahren lebten, in denen es den modernen Menschen Homo sapiens gibt. Sie stoßen dabei auch noch auf eine Verbindung zwischen dem Südwesten Europas und Zentralasien, die bisher niemand ahnen konnte. Denn die DNA aus dem Oberschenkelknochen eines vor 400.000 Jahren verstorbenen Frühmenschen aus einer Höhle in der Sierra de Atapuerca im Norden Spaniens ähnelt dem Erbgut des Denisova-Menschen verblüffend, der im Altai-Gebirge im Süden Sibiriens lebte.

Diesen Denisova-Menschen hatten die Leipziger Forscher 2010 völlig unerwartet entdeckt, als sie aus einem winzigen Fingerknöchelchen das Erbgut isolierten. Er war vor 40.000 bis 100.000 Jahren quasi der Cousin des Neandertalers und mit dem modernen Homo sapiens deutlich weniger verwandt. Nach dem Tod eines Lebewesens aber beginnt sich sein Erbgut langsam zu zersetzen. Bisher konnten die Forscher daher im allerbesten Fall DNA unter die Lupe nehmen, die aus den letzten 100.000 Jahren Menschheitsgeschichte stammt.

Die Chance schien also gering, in den etwa 400.000 Jahre alten Fossilien der Sima de los Huesos, die als "Knochengrube" übersetzt werden kann, noch verwertbares Erbgut zu finden. "Für mich war es eine Riesenüberraschung, dass tatsächlich noch DNA drin war", gibt der Forscher unumwunden zu. Diesen hoffnungsvollen Fund erklärt der Forscher mit den besonderen Umständen: Die Knochengrube liegt 30 Meter unter der Erdoberfläche, ihr nächster Ausgang an die frische Luft ist einen halben Kilometer entfernt. Deshalb liegen die Temperaturen dort das ganze Jahr konstant bei 10,6 Grad Celsius, und die Luft ist mit Feuchtigkeit gesättigt. "Das aber ist ein nahezu perfekter Kühlschrank, in dem sich das Erbgut erstaunlich gut hält", erklärt der Max-Planck-Forscher.

Aus einem 1999 dort gefundenen Oberschenkel-Knochen bohrte Matthias Meyer gemeinsam mit Juan-Luis Arsuaga, der die Ausgrabungen leitet, und seinem Kollegen Ignacio Martinez 1,95 Gramm Knochenmehl heraus. Die aus solchen Fossilien gewonnene DNA besteht normalerweise allenfalls aus winzigen Spuren wirklich alten Erbguts und sehr großen Mengen von "Verunreinigungen" - Erbgut, das zwischen dem Ausgraben und den Laborarbeiten auch bei peinlich sauberer Arbeit von den Menschen dazukommt, die mit dem Knochen hantieren.

Verblüffender Bauplan

Mit einigen Tricks fischte Matthias Meyer dann aus diesem Gemisch ähnlich wie eine Stecknadel im Heuhaufen das alte Erbgut heraus. Zudem hatte der Forscher sich auf das Erbgut aus den "Mitochondrien" genannten Mini-Kraftwerken in den Zellen von Lebewesen konzentriert, von denen viel mehr Kopien in einer Probe stecken als von der DNA im Zellkern. Am Ende hatte Matthias Meyer dann einen Bauplan des Erbguts in den Mitochondrien auf dem Computerbildschirm, der nicht nur ihn mehr als verblüffte: Die Menschen in der Knochengrube werden zur Homo-heidelbergensis-Linie gerechnet, die sich vor rund 600.000 Jahren aus einer Homo erectus genannten Frühmenschen-Art entwickelte und aus der vor 200.000 Jahren die Neandertaler entstanden sein sollen. Etliche Eigenschaften der Neandertaler tauchen dann auch in den dort gefundenen Fossilien auf. Das Erbgut aber spricht eine ganz andere Sprache: "Die DNA ähnelt viel stärker dem Denisova-Menschen, den wir aus Sibirien kennen, als dem Neandertaler oder Homo sapiens", wundert sich Matthias Meyer.

Wie die Beziehung zwischen den Urahnen der Menschheit in Spanien und Sibirien genau aussieht, dürften die Forscher wohl erst erfahren, wenn sie auch das Erbgut aus dem Zellkern unter die Lupe nehmen. Dazu aber bräuchten sie vermutlich einige hundert Gramm Knochenmehl von Fossilien, von denen Archäologen selbst winzige Splitter nur äußerst ungern aus der Hand geben, schätzt Meyer. Sicher aber scheint dem Leipziger Forscher jedenfalls: "Die Geschichte der Menschheit ist viel komplizierter als bisher gedacht!" Damit bestätigt er einen Verdacht, den seit wenigen Jahren auch viele Archäologen teilen.