Warum die Europäische Volkspartei ihre Position bezüglich Viktor Orbán und Fidesz überdenken sollte.
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"Wo Freiheit, Menschenrechte und Pluralismus sind, da ist Europa!", lautet ein bekannter Spruch des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Der CDU-Politiker fasste kurz und bündig zusammen, welche Werte Europa verbinden, und betonte dabei unmissverständlich, auf welche Qualitäten Europa nicht verzichten darf.
Solche Erläuterungen gewinnen eine besondere Bedeutung, wenn sie in bestimmten Gesellschaften in Gefahr geraten. Ähnlich wie im heutigen Ungarn, in dem sich nach einem erneuten Wahlsieg der zur Europäischen Volkspartei (EVP) gehörenden Fidesz das dritte Kabinett von Premierminister Viktor Orbán gebildet hat.
Auf allen Ebenen erfolgt in Ungarn die systematische Einschüchterung der Andersdenkenden und der Regimekritiker. Journalisten werden wegen Kritik an Regierungsgeschäften oder Handlungen einzelner Minister von heute auf morgen entlassen, mit drakonischen Strafen werden kritische Medien in die wirtschaftliche Unmöglichkeit getrieben, die staatliche Presseagentur MTI zensiert die Meinung der Oppositionellen, die Regierung ruft die Geheimdienste bei Wahlkampagnen für politische Zwecke ohne weiteres zu Hilfe, der öffentlich-rechtliche Fernsehsender Duna World strahlt den Propagandafilm "Der Himmel meiner Kindheit" des kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew aus.
Gerade einmal ein Jahrzehnt nach der Osterweiterung der Europäischen Union wäre Ungarn nicht mehr in der Lage, die für den EU-Beitritt notwendigen Kopenhagener Kriterien zu erfüllen.
Welche Gefahren sich in der nationalistischen Politik Orbáns auf der internationalen Ebene verbergen, zeigt seine brandgefährliche Rede, in der er inmitten der Ukraine-Krise die Autonomie für ethnische Ungarn forderte. Daraufhin hagelte es heftige Kritik. Der polnische Premier Donald Tusk reagierte mit außergewöhnlicher Verärgerung und wies indirekt auf einen Wissensmangel bezüglich der Geschichte des ungarischen Regierungschefs hin. "Wenn jemand behauptet, dass der Zerfall der Ukraine irgendeinen Vorteil für die Nachbarländer hätte, begeht er einen dramatischen Fehler", fügte Tusk hinzu.
Überraschend zurückhaltend präsentiert sich die EVP. Die Fidesz-Politik stößt innerhalb der konservativen Allianz auf Toleranz, sie hat die politische Richtlinie des ungarischen Premiers in den vergangenen Jahren ständig in Schutz genommen.
Als leitende Kraft der EVP tragen Angela Merkel und die CDU eine erhebliche Verantwortung für die Haltung der EVP zur ungarischen Regierung. Die deutsche Bundeskanzlerin unterschätzt offenbar die Gefahr durch die Politik ihres ungarischen Kollegen, die innerhalb und außerhalb der ungarischen Grenzen ernsthafte Konflikte generiert.
Merkel gehört zu den wenigen Politikern, die Einfluss auf Orbán ausüben können, sie macht aber nur ganz selten davon Gebrauch. Ein Überdenken des Verhaltens der EVP gegenüber der ungarischen Exekutive wäre erforderlich, weil sich die EVP mit ihrem jetzigen Ungarn-Kurs paradoxerweise von den von Bundespräsident Weizsäcker erläuterten europäischen Werten klar distanziert.