Arbeitsmarktexperte Schneider im Interview. | Harsche Kritik am Lehrlingssystem. | Gewerkschaften künftig als entpolitisierte Serviceklubs? | "Wiener Zeitung": Welchen Weg sollte heute ein Jugendlicher einschlagen, auf dasser von Arbeitslosigkeit verschont bleibt?
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Hilmar Schneider: Diese Generation wird, sofern keine unabsehbare Katastrophe passiert, in relativ rosigen Zeiten leben - so lange sie eine gute Ausbildung absolviert. Das ist der einzige vernünftige Rat, den ich geben kann. Auf absehbare Zeit wird der demographische Wandel dazu führen, dass bald ein Mangel an jungen, gut ausgebildeten Fachkräften herrschen wird.
Sie warnen, dass sich die Halbwertszeit von Wissen zusehends verkleinert. Wie oft wird man sich in Zukunft weiterbilden müssen?
Das ist schwer zu sagen, es hängt von der Qualifikation ab. Faktum ist, dass niemand mehr in seinem erlernten Beruf in Pension gehen wird. Interessant ist allerdings, dass die Bereitschaft zur Fortbildung ganz maßgeblich von der beruflichen Perspektive abhängt. Je stärker die Frühverrentung grassiert, desto früher kommt auch das Aus für die Bereitschaft zur Weiterbildung. Hinzu kommt, dass wir ein völlig antiquiertes Berufsbild haben. Statt von starren Berufen sollten wir von Tätigkeiten sprechen, deren Profil sich allerdings rasch verändern kann.
Daraus leitet sich ein Plädoyer für eine möglichst breite, allgemeine Ausbildung ab, weg von zu früher Spezialisierung, wie es im dualen System der Fall ist.
Ja, die Lehre wird maßgeblich an Bedeutung verlieren. Die Frage ist, warum halten wir so verzweifelt am dualen Ausbildungssystem fest?
Warum?
Weil es bequem ist! Wer eine Lehre macht, verfügt bereits über ein Einkommen, im dritten Lehrjahr ist das mitunter schon beachtlich. Vor die Frage gestellt Universität oder Lehre? entscheiden sich Eltern oft für die Lehre aus ökonomischen Gründen: Das Kind hat ein eigenständiges Einkommen, der Haushalt wird entlastet. Die Frage nach den besseren Zukunftschancen kommt dabei zu kurz. Auch die zwanghafte Suche nach neuen Lehrberufen ist der falsche Weg. Zentral ist dagegen die Fähigkeit, sich Wissen aneignen zu können.
Soll die Politik den Arbeitsmarkt flexibilisieren oder stärker regulieren?
Flexibilisieren.
In welchem Ausmaß?
Das ist eine politische Frage . . .
Die Politiker fragen wiederum die Experten um Rat.
Am Ende steht die Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit. Ist diese einmal verloren, gibt es zu Flexibilisierung keine Alternative - es sei denn, der Verlust von Arbeitsplätzen spielt keine Rolle. Die Gefahr der Überregulierung besteht. Etwa bei der sozialen Alimentierung. Diese muss über das Steueraufkommen finanziert werden. Praktisch prämiere ich Menschen dafür, dass sie nicht arbeiten.
Sie fordern, dass Arbeitnehmer wie Unternehmer denken und handeln. Linke sehen darin wohl einen weiteren Schritt zu Selbstausbeutung der Arbeitnehmer.
Missverstehen Sie das bitte nicht als moralischen Appell. Wir sind dazu gezwungen, unsere Arbeitswelt auf diese Weise zu organisieren, einfach weil das effizient ist. Das Zeitalter der Massenproduktion ist in Europa nun einmal längst vorbei. An ihre Stelle ist die kundenorientierte Produktion getreten, die im Extremfall sogar individuell auf die Wünsche der Konsumenten eingeht. Das macht es nötig, die Verantwortung auf die Ebene der einzelnen Mitarbeiter zu verlagern.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Zukunft der Gewerkschaften?
Das ist eine interessante Frage, leider kann ich sie nicht beantworten. Sicher ist nur, dass für die traditionelle Vorstellung von Gewerkschaften kein Platz mehr sein wird. Der US-Experte Richard Freeman postuliert, dass sie nur dann eine Überlebenschance haben, wenn sie sich zu einer Service-Einrichtung in der Art von ÖAMTC oder Arbö für Arbeitnehmer entwickeln und etwa Rechtsschutz, Beratung für Weiterbildung anbieten.
Gewerkschaften als entpolitisierte Arbeitnehmerklubs?
Das könnte eine Antwort sein. Statistisch können wir jetzt schon den Zeitpunkt vorausberechnen, wann das letzte Gewerkschaftsmitglied sterben wird.
Und wer verhandelt dann die Kollektivverträge?
Das wird weiter Sache der Gewerkschaften sein, bleibt das allerdings deren einzige Kompetenz, werden sie Probleme bekommen. Sie brauchen eine gewisse Mindestmitgliederzahl, um ihre Verhandlungsposition zu untermauern. Die Servicefunktion ist hier Mittel zum Zweck.
+++ Zur Person:
Hilmar Schneider ist Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit. Er studierte Sozialwissenschaft und Volkswirtschaft und war u. a. Forscher am World Economy Laboratory des Massachusetts Institute of Technology. 2006 wurde er Mitglied im Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten und 2007 Mitglied der Zensuskommission.
Am Dienstag hielt Schneider auf Einladung des Wiener Unternehmens Competence Call Center CCC anlässlich des 2. Forum Zukunft der Arbeit einen Vortrag.