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Das Gebot der Einfachheit

Von András Mannhardt

Gastkommentare
András Mannhardt (Jahrgang 1963) ist ungarischer Psychologe und Publizist. Sein Buch "Die Überholung der Kultur" ist in Ungarn sehr erfolgreich. Sein wöchentlicher Blog "Psychologie im Alltag" hat mehrere tausend Follower.
© privat

Woran die ungarische Opposition gescheitert ist.


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Bei der Analyse der jüngsten Wahlen in Ungarn vom 3. April taucht oft der Befund auf, die Parteien der vereinten Opposition hätten nicht jene Probleme angesprochen, die die Mehrheit der Wähler wirklich interessieren würden, und ein Teil der Wähler habe gar nicht begriffen, worum es der Opposition gehe. Weniger oft geht es darum, dass der Erfolg oder Misserfolg der Kommunikation nicht nur von den sachlichen Inhalten der Botschaften abhängt, sondern auch davon, in welcher Form und in welcher Aufmachung sie übermittelt werden.

Das dazu passende Zitat von Adolf Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels lautet: "Die niederen Massen sind meistens viel primitiver, als wir denken. Das Wesen der Propaganda ist deshalb unentwegt die Einfachheit und die Wiederholung." Goebbels’ Worte sind inhuman und zynisch, dennoch sollte man nicht außer Acht lassen, welche psychologische Wahrheit dahintersteckt.

Laut einer im vorigen Jahr publizierten Einschätzung sind etwa ein Viertel der Erwachsenen in Ungarn funktionale Analphabeten. Wirklich alarmierend ist das nicht, denn der Anteil der funktionalen Analphabeten beträgt auch unter den 15- bis 65-jährigen Italienern 27,7 Prozent, in Spanien sind es 27,5 Prozent und in Deutschland immerhin 17,5 Prozent. Bei den unter 15-jährigen Rumänen liegt dieser Wert sogar bei 42 Prozent.

Obwohl weder die Definition noch die Methodik der Erhebung des funktionalen Analphabetismus bisher eindeutig festgelegt sind, werden Menschen dieser Kategorie zugerechnet, die die Buchstaben zwar erkennen, jedoch den gelesenen Text weder verstehen noch sich darüber schriftlich artikulieren können. Das bedeutet, dass in Ungarn ungefähr zwei Millionen Wähler keine Texte interpretieren können.

Selbstverständlich geht es bei ihnen nicht nur um mangelnde Lesefähigkeit. Es ist anzunehmen, dass sich diese Wähler mit tiefgreifenden Analysen politischer oder öffentlicher Angelegenheiten einfach nicht befassen wollen. Aber die Parteien müssen sie dennoch erreichen und überzeugen, weil sie ihre Stimmen brauchen. Das kann dann nur mittels Botschaften geschehen, die mit wenigen, sehr einfachen Worten oder sogar ganz ohne Worte, nur durch Bilder und Zeichen zu verstehen sind.

Bei zwei Millionen Wählern kommt die Botschaft nicht an

Es müssen intuitiv verwendbare Losungen sein, die statt Argumenten fertig übernehmbare Behauptungen beinhalten. Daher ist die Forderung nach einfachen Botschaften für jene berechtigt, die zum argumentativen und politischen Denken nicht bereit sind. Dementsprechend haben Politiker oder Parteien, die für ihre Botschaften mehr als eine Zeile benötigen, den Kontakt zu zwei Millionen ungarischen Wählern, und zwar völlig unabhängig vom Inhalt der Botschaft, bereits verloren.

Die Wirkung der Wiederholungen ist ebenfalls wichtig und hat mit dem Bildungsniveau der Wähler nichts zu tun. Eine der kognitiven Verzerrungen, die zum menschlichen Denken gehören, ist das Verknüpfen von Vertrautheit mit Wahrheit. Gibt es eine Übereinstimmung zwischen einer soeben vernommenen mit einer früher aufgenommenen Information, die man im Gedächtnis bewahrt hat, wird das Gehirn dazu neigen, Letztere eher für wahr zu halten. Auch die Werbung nutzt den Mechanismus der ständigen Wiederholung.

Eine Pseudorealität im politischen Marketing

Das Problem ist, dass es beim normalen Marketing verhältnismäßig leichtfällt, einfache Botschaften zu übermitteln. Beim politischen Marketing hingegen, das sich nach der Realität richtet, ist das nicht immer machbar. Die gesellschaftlichen Prozesse sind nämlich so komplex, dass es meistens nicht möglich ist, mit zwei bis drei Worten oder gar nur mit Bildern etwas angemessen über sie auszusagen. Daher muss man in der Tat davon ausgehen, dass die Botschaft an jene, die sich nicht informieren können oder wollen, simpel sein muss, sonst verpufft ihre Wirkung. Es müssen plausible Unwahrheiten verbreitet werden, damit ein Umfeld ermöglicht wird, in dem die aus wenigen Worten bestehende politische Botschaft dennoch als relevant erscheint.

Bei den vergangenen Wahlen schuf Premier Viktor Orbán in Ungarn eine Pseudorealität mit der Aussage: "Die Opposition will Krieg." Die in diesem Kontext als plausibel erscheinende, bewegende Nachricht war: "Wenn du nicht in den Krieg willst, dann wähle Fidesz." Das Ergebnis dieser Aussage ist am Wahlergebnis deutlich zu erkennen. Die Aufgabe der Opposition wäre es nicht nur, die für die Masse wichtigen Themen zu finden, sondern auch, diese mit einfachen Worten den Wählern nahezubringen. Damit hätte sie die funktionalen Analphabeten und für analytische Bewertungen nicht bereiten Wähler erreichen können und sie nicht anderen überlassen. Mit den eigenen, aus mehr als drei Worten bestehenden Botschaften hat sie diese Bevölkerungsschicht nämlich nicht erreicht.

Erlaubt sei die Frage: Welches ist die größere Schande für unsere Zeit?

Der vorliegende Text ist auch in der ungarischen Wochenzeitung "Élet és Irodalom" (Leben und Literatur) erschienen.