Der wissenschaftliche Forschungsprozess ist fehleranfällig - vor allem dann, wenn eigene Erwartungen mitmischen.
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Wien. Die wissenschaftliche Forschungspraxis steht in der Kritik. Vergangene Woche wurde bekannt, dass wissenschaftliche Fachmagazine ohne jegliche Qualitätssicherung Studien publiziert hatten. Weltweit sollen über 400.000 Forscher Beiträge in dubiosen Online-Fachzeitschriften veröffentlicht haben, die den auf Wissenschaftern lastenden Publikationsdruck ausnutzen.
Doch selbst renommierte Fachjournale sind keine Garantie für eine absolute Fehlerfreiheit. Das zeigt schon allein die Tatsache, dass vereinzelte Publikationen zurückgezogen werden müssen. Fehler werden zudem nicht immer bewusst gemacht. Nicht immer ist es die Schuld der Wissenschafter, dass falsche oder verzerrte Ergebnisse an die Öffentlichkeit geraten.
Kognitive Verzerrungen beeinflussen Studienaufbau
Ob Studienaufbau, Datenanalyse oder Publikation: Jedes Stadium des wissenschaftlichen Forschungsprozesses ist fehleranfällig. Denn auch Forscher sind nur Menschen - und menschliche Gehirne machen Fehler, selbst wenn wissenschaftliche Standards eingehalten werden. Das kann im empirischen Forschungsprozess beginnen, bevor eine Studie überhaupt durchgeführt wird. Denn schon der Aufbau einer Studie trägt entscheidend zu seiner Aussagekraft bei.
Beginnen wir bei der Auswahl der Testpersonen: Die Art der Probanden kann das Ergebnis extrem beeinflussen und variiert von Forscher zu Forscher, auch wenn sie vermeintlich zufällig ist. Wissenschafter sind keine Ausnahme, was soziale Prägungen betrifft. Auch sie wachsen in gewissen Umgebungen auf, die in den Forschungsprozess hineinfließen können. So wird ein US-amerikanischer Forscher wohl gerne US-amerikanische Probanden für seine Studie heranziehen, ähnlich wie ein Mann, der in einem männlich geprägten akademischen Umfeld geprägt vielleicht gerne mit Männern als Testpersonen arbeitet.
Auch in der Durchführung der Studie selbst kann es zu Verzerrungen kommen, auf die die Forschenden keinen Einfluss haben. Vor allem bei Verhaltensstudien kommt es auf die Probanden und ihre Reaktionen an. Exemplarisch sei hier der Hawthorne-Effekt genannt. Dabei verhalten sich Probanden anders als sonst, allein weil sie wissen, Teil einer Studie zu sein. Ein anderes Beispiel ist der Placebo-Effekt, der Medikamente allein durch den Glauben an ihre Wirkung anschlagen lässt.
Am fehleranfälligsten ist jedoch der Moment, wenn Daten auf Forscher treffen, insbesondere wenn es darum geht, möglichst neutral und objektiv zu sein. "Das menschliche Gehirn ist nicht geschaffen für nüchternes Denken", sagt Nick Enfield. Er ist linguistischer Anthropologe und Chef der Post-Truth Initiative, die sich für die Wahrheit und Faktenbasiertheit einsetzt. Im Englischen hat sich für die Art und Weise, wie das Gehirn Wahrnehmungen verändert, der Begriff "cognitive bias" etabliert, kognitive Verzerrung.
Wahrnehmung trübt die Sicht auf die Fakten
Kognitive Verzerrungen passieren im Alltag ständig. Problematisch werden sie dann, wenn es darum geht, sachlich zu sein. Ein Beispiel für verzerrte Wahrnehmung in der Forschung ist der "confirmation bias", der Bestätigungsfehler. Dabei werden Ergebnisse bevorzugt, die den eigenen Erwartungen entsprechen. Im besten Fall prüfen sie unerwartete Daten. Im schlechtesten Fall akzeptieren Forscher Ergebnisse aber nicht, die den Erwartungen zuwiderlaufen, oder lassen erwartete Ergebnisse einfach ohne Gegencheck so stehen, wie sie sind.
Eine weitere Spielart des Gehirns ist, dass es Muster erkennt. Im Alltag ist das praktisch. Bei der Auswertung von Daten kann es aber tückisch sein, wenn Muster oder Korrelationen erkannt werden, wo keine sind. Kommt dann noch der "bias blind spot" dazu, der blinde Fleck für Verzerrungen, bei dem man sich selbst für unbeeinflusst hält, ist es fast unmöglich, die kognitiven Tricks des Gehirns auszubessern.
Eigentlich gibt es ein Werkzeug, das solche Beeinflussungen und dadurch verzerrte oder falsche Studienergebnisse rechtzeitig erkennen und auch beheben kann. In einem guten Fachjournal wird keine Studie ohne Peer Review veröffentlicht. Dabei überprüfen unabhängige Forscher die Studien ihrer Kollegen, im besten Fall wiederholen sie sie. Bei manchen Studien ist das nicht möglich, wenn sie zum Beispiel zu umfangreich sind oder über mehrere Jahre laufen. Auch Studien, die als ethisch bedenklich gelten, können nicht wiederholt werden. Etwa wurde das Milgram-Experiment nie wiederholt. Dabei wollten Forscher herausfinden, ob sich Menschen durch autoritäre Anweisungen dazu bringen lassen, andere mit Stromschlägen bis zum Tod zu bestrafen.
Oft gibt es für Wissenschafter einfach keinen Anreiz, die Arbeit ihrer Kollegen zu testen. Studienergebnisse zu replizieren, ist Zweite-Reihe-Forschung, ein Ergebnis zu bestätigen bringt weder Aufmerksamkeit noch Auszeichnungen. Genau die sind aber nötig, um sich im Wissenschaftsbetrieb einen Namen zu machen. Eine Kombination aus Publikationsdruck und fehlenden Peer Reviews war es auch, die zum Erfolg der Raubverlage ohne Qualitätssicherung geführt hat.
Bindeglied zwischen Forschung und Bevölkerung
Die letzte Station einer Studie sind die Schreibtische von Wissenschaftsjournalisten - und somit die Öffentlichkeit. Als Bindeglied zwischen Forschung und Bevölkerung sollten Journalisten über all diese Fehlerquellen zumindest Bescheid wissen und aufklären. Verhindern lassen sich Fehler kaum.
Nick Enfield zufolge ist das auch gar nicht nötig. Wichtig sei jedoch das Bewusstsein, dass sie vorkommen können, sowohl in den Redaktionen als auch in den Labors. "Anstatt gegen kognitive Verzerrungen zu kämpfen, müssen wir mit ihnen arbeiten, um sie in Schach zu halten", sagt der Anthropologe.