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Das Gehirn im Bausatz

Von Alexandra Grass

Wissen

Minigehirn gibt Aufschluss über Zellenwanderung und die Ursache neurologischer Erkrankungen.


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Wien. Bisher war es schier unmöglich, Krankheiten wie Epilepsie, Autismus oder Schizophrenie gründlich auf die Spur zu kommen. Dadurch gestaltet sich nicht nur die genaue Diagnostik als schwieriges Unterfangen, sondern auch die Therapiewahl. Licht ins Dunkel bringen nun Forscher des Instituts für Molekulare Biotechnologie (Imba) in Wien. Sie beschreiben im Fachblatt "Nature Methods" eine völlig neuartige Methode, um dreidimensionale Gehirnmodelle aus Stammzellen noch gezielter für die Erforschung neurologischer Krankheiten einsetzen zu können.

Die Herstellung von Minigehirnen - sogenannte cerebrale Organoide - an sich war dem Molekularbiologen Jürgen Knoblich schon vor ein paar Jahren gelungen. Damit wurde es erst möglich, die Entwicklung eines Gehirns eines jeden individuellen Menschen nachzuahmen, schildert der stellvertretende wissenschaftliche Direktor am Imba im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Um aber Modelle für die Erforschung häufiger neurologischer Erkrankungen herzustellen, waren noch ein paar Probleme zu überwinden.

Fusion geschafft

Eines der größten war es bisher, dass diese Organoide zwar die gewünschten Teile des Gehirns enthalten, diese aber ganz zufällig angeordnet sind - "vergleichbar mit einem Auto, das die Fensterscheibe oben hat, den Auspuff unten, die Räder auf dem Dach und den Motor querliegend", beschreibt der Forscher. Damit lassen sich zwar die einzelnen Teile studieren, aber aufgrund der Fahruntauglichkeit nicht deren Zusammenwirken.

Für die Lösung des Problems kam Joshua Bagley aus Knoblichs Forschergruppe dann die zündende Idee, Gehirnteile separat zu produzieren und sie in einem nächsten Schritt zusammenzuführen. "Das hat er geschafft", freut sich der Wissenschafter über die Fusion des dorsalen (oberen) und ventralen (unteren) Großhirns. Erstmals ist es damit gelungen, die Interaktionen zweier Gehirnregionen live zu beobachten.

Diese Interaktionen bestehen etwa aus Zellwanderungen. Denn im Laufe der embryonalen Gehirnentwicklung entstehen sogenannte Interneurone in einem Teilbereich des menschlichen Gehirns und wandern über eine weite Strecke an ihren richtigen Platz. Dabei orientieren sie sich anhand chemischer Signale. "Diese Zellen werden dringend gebraucht, um die Schaltkreise im Großhirn zu dämpfen", schildert Knoblich. Sind die steuernden Signale aber gestört, kommen nicht genug Interneurone in ihrer Zielregion an und können darum ihre regulatorischen Funktionen nicht ausreichend erfüllen. In Folge kommt es zur Übersteuerung der Schaltkreise, die sich in spontanen Bewegungen und Krämpfen äußert - der Epilepsie.

Eine Schlüsselrolle bei der Zellwanderung spielt das Protein CXCR4, erklärt der Molekularbiologe. Indem sie diesen molekularen Wegweiser im Gehirnmodell ausschalteten, konnten sie beobachten, wie die chemische Orientierung der wandernden Interneurone nachlässt. Die Zellen verirren sich und kommen damit nicht mehr in der Zielregion an. Das hat zur Fogle, dass in manchen Gehirnarealen Interneurone fehlen und in diesen Bereichen Neurone nicht mehr ausreichend reguliert werden können.

Die Forschungen haben schon jetzt pharmakologische Auswirkungen, betont Knoblich. Derzeit wird nämlich untersucht, ob ein zur Immunstimulation eingesetztes Medikament (AMD 3100), das genau dieses Protein CXCR4 blockiert, schwangeren Frauen verabreicht werden darf. Ein gehemmtes CXCR4 könnte nämlich Schäden im heranwachsenden Gehirn des Embryos verursachen. Entgegen den bisher positiven Ergebnissen aus dem Tierversuch, können die Forscher nun Daten vorlegen, die wohl zu einer Veränderung der Medikation führen wird.

Neues Zeitalter

"Mit unserer Methode kann man die Medikamente nun an menschlichem Gewebe testen. Das wird die Tierversuche nicht ersetzen, aber die Übertragung auf den Menschen um einiges erleichtern", betont der Forscher.

In Sachen Epilepsie ist die Grundlagenforschung mittlerweile auch in der Klinik angekommen. So wird versucht, an bestimmten individuellen Patienten, die an der Erkrankung leiden, herauszufinden, ob ein Defekt in der Interneuronenwanderung die Ursache dafür ist. Ist das der Fall, müsste die Therapie anders ansetzen.

Für die Entwicklung von Medikamenten für neurologische oder psychiatrische Erkrankungen bricht mit der Organoidforschung ein neues Zeitalter an. Schon jetzt haben die Forscher "eine Riesenbatterie an verschiedenen Krankheitsmodellen in Entwicklung, die wir in den Organoiden testen werden", kündigt Knoblich an.