Vor genau 20 Jahren kam es im mexikanischen Chiapas zum ersten Aufstand gegen den Neoliberalismus.
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Es wurde oft zitiert, das von Francis Fukuyama proklamierte "Ende der Geschichte" nach dem Untergang des autoritären Sozialismus. Er traf den damaligen Zeitgeist, den Kapitalismus als alternativlos zu sehen. In ihrer zynischsten Variante wurden die neoliberalen Versprechen in Mexiko exerziert - wenn die Marktkräfte sich frei entfalten könnten und es den Reichen besser gehe, komme auch "unten" etwas an. Doch das war mitnichten der Fall, immer mehr Menschen verarmten.
In dieser Konstellation besetzten Indigene in der Neujahrsnacht 1994 einige Provinzstädte im Bundesstaat Chiapas und erklärten der mexikanischen Regierung den Krieg. Die "Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung" (EZLN) zeigte sich. Ihr Name wurde in Anlehnung an einen radikalen Anführer der mexikanischen Revolution (1910 bis 1917), Emiliano Zapata, gewählt. Die Botschaft vor 20 Jahren: Ya basta! 500 Jahre kolonialer Unterdrückung und rassistischer Ausbeutung sind genug! Wir wollen eine Demokratie, die diesen Namen verdient, Freiheit, die nicht nur die Freiheit der Investoren ist, Gerechtigkeit im umfassenden Sinne selbstbestimmten Lebens.
Doch dafür, das war die beeindruckende Botschaft, sollte keine neue Partei gegründet und auch nicht die Macht im Staate übernommen werden. Die Zapatisten mimten auch nicht die freundliche Zivilgesellschaft, die sich als Gegenüber der Regierungen (miss-)versteht und die schlimmsten sozialen Verwerfungen abfedert. Es sollte viel grundlegender angesetzt werden, an den politischen und ökonomischen Strukturen und Machtverhältnissen.
Dieser Aufstand erfuhr eine schier unglaubliche Unterstützung in Mexiko und im Ausland. Plötzlich wurde über Armut und Gewalt, das korrupte System der Quasi-Staatspartei PRI, die Ausgrenzung der Indigenen und neoliberale Politik intensiv diskutiert. Mexikos Regierung ließ sich angesichts der breiten Resonanz der Anliegen zwar auf Gespräche mit den Aufständischen ein - führte aber gleichzeitig einen "Krieg niedriger Intensität" in den indigenen Gebieten. Sie arbeitete die Forderungen der Aufständischen in endlosen Gesprächen klein.
In Mexiko wird heute diskutiert, ob Präsident Enrique Peña Nieto nicht in einer ähnlichen Lage ist wie vor 20 Jahren Carlos Salinas de Gortari: Eine korrupte politische und wirtschaftliche Elite negiert faktisch die dramatischen politischen und wirtschaftlichen Folgen neoliberaler Politik, die sich durch den Krieg der Drogenkartelle gegeneinander noch verschlimmert hat.
Eine bis heute wirkende historische Errungenschaft der Aufständischen in Chiapas liegt in der konkreten Verbesserung der Lebensverhältnisse vieler Indigener. Doch sind ihre Erfolge noch tiefgehender und weitgreifender: Viele soziale Bewegungen seit den 1990ern bezogen sich auf das politische Selbstverständnis der mexikanischen Zapatisten. Auch spätere indigene Rebellionen in Bolivien und Ecuador, die zu linken Regierungen führten, wären ohne den Aufstand in Chiapas kaum denkbar. Und schließlich haben die Zapatistas dazu angeregt, Politik viel umfassender zu verstehen, nicht nur vermittelt durch Staat und Parteien.
Ulrich Brand ist Professor für Internationale Politik an der Universität Wien und forscht unter anderem zu Lateinamerika. Er publizierte gemeinsam mit Ana Esther Ceceña einen ersten deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Sammelband zum Aufstand der Indigenen in Mexiko: "Reflexionen einer Rebellion. Chiapas und ein anderes Politikverständnis" (Münster 2000).