Zum Hauptinhalt springen

Das gläserne Auto

Von Raimund Wagner

Gastkommentare

Mit dem e-Call bekommt jedes Neufahrzeug eine eigene ID - und generiert auch viele Daten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Seit Ende März 2018 ist der e-Call für alle neu homologierten Pkw und leichten Nutzfahrzeuge gesetzlich verordnet. Das Ziel der Europäischen Union ist es, die Verkehrssicherheit in allen Mitgliedstaaten zu verbessern und jährlich bis zu 2500 Menschen durch die beschleunigte Rettungskette das Überleben zu sichern. Das "schlafende" Notrufsystem wird automatisch aktiviert, sobald fahrzeugseitige Sensoren einen schweren Zusammenstoß registrieren. In diesem Fall werden umgehend meist an die europäische Notrufnummer 112 Fahrzeugkennung, Fahrzeugtyp, Treibstoff, Anzahl der Insassen, Unfallort und Unfallzeit übermittelt. Eine manuelle Auslösung des Notrufes ist ebenfalls möglich.

Der e-Call ist zwar als "schlafendes" System konzipiert - de facto ist damit jedoch jedem Fahrzeug eine eigene ID zugeordnet. Jedes Auto hat somit - gesetzlich vorgeschrieben - alle notwendigen Voraussetzungen für das Senden von Daten aus dem Fahrzeug. Mit der Vielzahl von Daten aus dem Fahrzeug werden gleichzeitig neue hoch attraktive Businessmodelle ermöglicht wie aktive Service- und Reparatureinladungen, automatisierte elektronische Fahrtenbücher bis hin zu gezielten Werbeangeboten.

Vertrauensverlust der Automobilindustrie

Die Daten sind das Gold der Zukunft und für alle hochinteressant. Derjenige, der den prioritären Zugang zu diesen Daten hat, besitzt einen klaren Wettbewerbsvorteil. Daher muss sichergestellt werden, dass nicht nur die Fahrzeughersteller, sondern auch andere interessierte Marktakteure - seien es Automobilmarkenhändler, freie Werkstattbetriebe oder auch Mobilitätsdienstleister aller Art - gleichberechtigten Zugang zu den Daten erhalten. Das sensible Thema des Schutzes und der Überlassung privater Daten sowie der freie Marktzugang zu den Daten rücken in den Focus.

Die Automobilindustrie mit ihren Werkstätten und Händler als Speerspitzen genoss sehr lange bei weitem das höchste Vertrauen Ihrer Kunden. Doch das eklatante Fehlverhalten im Rahmen des Abgasskandals hat die Vertrauensbasis erschüttert, Skandale à la Facebook verstärken die berechtigte Skepsis der Konsumenten. Neben den absolut notwendigen Aufräumarbeiten nach diesen Skandalen gilt es daher für die Autobranche, die richtigen Zeichen und neue überzeugende Akzente zu setzen.

Noch kein gleichberechtigter Zugang zu Daten

Ein dafür bestens geeignetes Geschäftsfeld ist das vernetzte Auto. Nach übereinstimmenden Meinungen von Herstellern und Unternehmen der Mobilitätsbranche werden Telematikservices große Marktchancen eingeräumt - ein Siegeszug der Telematik wird bereits länger erwartet. Die positive Resonanz der Kunden ist jedoch noch sehr überschaubar. Die vielfach sehr ehrgeizigen neuen Konzepte für Telematikservices sowie der weitere Markterfolg kann nur mit einer durchgängigen und ganzheitlichen Vernetzungsstrategie entscheidend beeinflusst werden. Die Datenhoheit für den Kunden und der Kundennutzen müssen klar im Vordergrund stehen.

Kein Automobilhersteller wird müde, immer wieder zu betonen, dass der Kunde der Besitzer seiner Fahrzeugdaten sei. Das einzige Problem dabei ist, dass dem Kunden nur der Einblick in die Daten erlaubt ist, er jedoch keine Kontrolle über diese Daten besitzt. Natürlich ist es eine sehr komplexe Herausforderung für die Automobilhersteller angesichts der Tatsache, dass sie verpflichtet sind, die Privatsphäre zu schützen und Datensicherheit zu gewährleisten. Dennoch häufen sich auch die Stimmen in den Autokonzernen, dass die im Fahrzeug generierten Daten allen Akteuren im Markt gleichberechtigt zur Verfügung gestellt werden müssen.

Es ist daher dringend notwendig dass, von der EU-Kommission gesetzliche Rahmenbedingungen für den Zugang zu Fahrzeugdaten geschaffen werden. Insbesondere muss darauf geachtet werden, dass ein fairer Wettbewerb für alle Akteure ermöglicht wird, die Zugang zu Fahrzeugdaten benötigen, um dem Kunden die besten Mobilitätslösungen anbieten zu können.

Neue Chancen mit neuen Geschäftsmodellen

Das heute vernetzte und übermorgen autonome Fahrzeug eröffnet der Automobilbranche vollkommen neue Geschäftsmodelle und Services. In dieser neuen Ära, in der die Transformation der individuellen Mobilität und der gesamten Branche aktiv gestaltet und nachhaltig geprägt werden kann, müssen die Autohersteller strategische Beziehungen mit Software-Lieferanten, aber auch mit dem direkten Mitbewerb aufbauen. Nur durch die Zusammenarbeit kann die hohe Komplexität des Themas bewältigt werden.

Elementar dabei ist die Wahlfreiheit für den Autobesitzer, wem er wie lange und mit welchem Nutzen definierte Daten aus dem Fahrzeug zur Verfügung stellen will. Nur so kann das Vertrauen der derzeit sehr enttäuschten sowie irritierten Kunden wieder gewonnen werden. Die richtige strategische Entscheidung zum jetzigen Zeitpunkt wird das Vertrauen der Kunden auch weiterhin sichern.

Es ist höchste Zeit für die Automobilindustrie, das Ruder der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens wieder herumzureißen. Eine gute Chance wäre es, den Kunden die absolute Datenhoheit über alle Daten aus ihrem vernetzten Fahrzeug zu geben. Die Automobilindustrie muss Privacy auch als Chance zur eindeutigen Differenzierung gegenüber den IT-Giganten wie Apple, Google und Co nutzen. Dazu benötigt es Mut der Manager.

Der Nobelpreisträger Hermann Hesse formulierte dies sehr treffend: "Leute mit Mut und Charakter sind den anderen Leuten immer sehr unheimlich." Nicht nur die Automobilbranche benötigt dringend solche Leute. Die Konsumenten werden es sehr schnell sehen und bewerten können, wie viel Mut und Charakter das Management der Automobilkonzerne hat. Dies könnte ein erster Schritt zur Rückgewinnung von Glaubwürdigkeit und Vertrauen bei den Konsumenten sein.