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Das Grenzland kippt

Von Gerhard Lechner

Analysen

Janukowitschs Versuch, wie Putin zu herrschen, ist gescheitert.


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Die Lage in der Ukraine bleibt hoch dramatisch. Von gelegentlichen Hoffnungsschimmern abgesehen hat sich in den letzten Tagen die Eskalationsspirale weiter nach oben gedreht. Mittlerweile haben sogar schon gefürchtete B-Wörter Hochkonjunktur: Altpräsident Leonid Krawtschuk warnte das Land vor dem Bürgerkrieg, Oppositionspolitiker Vitali Klitschko forderte seine Landsleute dazu auf, "in jedem Hof, in jedem Bezirk, in jedem Haus" Bürgerwehren zu bilden. Umgekehrt konstituiert sich in Charkow im Osten des Landes eine "Ukrainische Front", die das Land von den prowestlichen "Okkupanten" säubern will.

Unabhängig davon, wie der ukrainische Machtkampf ausgeht - angerichtet hat er bereits genug. In sozialen Netzwerken wie Facebook oder dem russischen Pendant "VKontakte" gehen die Emotionen hoch, man bedient sich in der historischen Mottenkiste: Ukrainische Nationalisten verweisen auf die Heldentaten der ukrainischen Patrioten der 1940er Jahre, russophile Kräfte auf deren Schandtaten. Prowestler erinnern an die Verbrechen Stalins wie den Holodomor, Süd- und Ostukrainer an die (Teilzeit-)Kooperation der Nationalisten mit den deutschen Nationalsozialisten. Dass Schüsse gefallen sind, hat den latent immer vorhandenen Gegensatz voll aufbrechen lassen.

Wie sollen die Menschen unter solchen Voraussetzungen weiter miteinander leben? Selbst wenn der Kampf um die Macht irgendwie entschieden würde, selbst wenn er mit einem Kompromiss, einem Modus vivendi endete - die Hoffnung, dass die chronisch geteilte Ukraine zusammenwächst, scheint für die nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte begraben. Wie sollen sie sich verständigen - die Parteigänger von Präsident Wiktor Janukowitsch und die von ihm an den Rand gedrängte politische Opposition, die Folterer und Schlägertrupps der Obrigkeit und die stramm nationalistischen Barrikadenkämpfer, die europabegeisterten Studenten und jene Ostukrainer, die um ihre Arbeitsplätze fürchten und eine engere Anbindung an Russland für sinnvoll halten? Die Eskalation in den vergangenen Wochen, der Einsatz von Schusswaffen hat das fragile Gleichgewicht, das sich in dem "Grenzland", wie "Ukraine" wörtlich heißt, seit der Unabhängigkeit 1991 herausgebildet hat, zum Kippen gebracht. So ist beispielsweise Präsident Janukowitsch dringend abzuraten, der Westukraine einen Besuch abzustatten: Bei Auftritten im nationalistischen Galizien müsste er nach dem, was geschehen ist, wohl um Leib und Leben fürchten.

Janukowitschs Tabubruch

Dass der Politiker aus dem ostukrainischen, russlandfreundlichen Donbass daran schuldlos wäre, kann man jedenfalls nicht behaupten: Janukowitschs Versuch, gleich seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin auch in Kiew eine "gelenkte Demokratie" mit starker Präsidialmacht und schrittweiser Entmachtung der Opposition zu installieren, konnte in der Ukraine nicht funktionieren. So war zum Beispiel die Inhaftierung politischer Gegner (beinahe) tabu - man wusste: Wenn sich der politische Wind in dem geteilten Land dreht, könnte man selbst ins Gefängnis kommen. Janukowitschs Justiz hat mit der Verurteilung von Julia Timoschenko diesen Modus vivendi durchbrochen - seitdem ist der Gesprächsfaden abgerissen, seitdem geht es zwischen der prowestlichen Opposition und dem Präsidenten ums politische und persönliche Sein oder Nichtsein.

Auch in dem aktuellen Konflikt agierte Janukowitsch nicht gerade souverän: Im September vorigen Jahres, nach einer Art Kurzzeit-Handelskrieg mit Russland, schien bereits klar, dass sich der Präsident der EU zuwenden wird. Euphorische Vorfreude brach im Pro-EU-Lager aus. Der Aufprall war dann umso härter: Die Abkehr des Staatschefs vom Pro-Europa-Kurs knapp vor dem Gipfel mit der EU in Vilnius, die Hinwendung zu Russland hatte eine Welle des Zorns im prowestlichen Lager zur Folge. Selbst wenn man die Politik des Präsidenten nicht moralisch, sondern machiavellistisch bewertet, ergibt sich ein Bild des Scheiterns: Ausgerechnet Mitte Jänner, als der Protest in Kiew bereits abgeflaut war, peitschte Janukowitsch eine ganze Reihe an umstrittenen Gesetzen durchs Parlament - und fachte damit das Feuer des Widerstands wieder an. Und just als sich seine Gegner durch gewalttätige Ausschreitungen vor der Weltöffentlichkeit erstmals zumindest in ein Zwielicht manövriert hatten, fielen die Schüsse auf die Demonstranten.

Geopolitische Zwangslage

Janukowitschs Fehler verstellen aber oft auch den Blick auf die Schuld anderer an der jetzigen Entwicklung. Etwa jener Russlands oder der EU: In Brüssel ist man zwar bereit, dem Land eine Assoziierung anzubieten, mehr aber auch nicht - die europäischen Sehnsüchte eines großen Teils der Ukrainer zielen aber auf eine (nirgendwo geplante) EU-Mitgliedschaft. Indem Brüssel und Moskau die Ukraine in seltener Einigkeit vor die Wahl zwischen einer Anbindung an den EU-Markt und einer Integration in Russlands eurasische Zollunion stellten - beides gleichzeitig, hieß es unisono, gehe nicht - stellten sie das zerrissene Land vor ein Existenzproblem.