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Das große Gedenken

Von Michael Schmölzer und Wolfgang Zaunbauer

1914

Der Beginn des "Großen Kriegs" 1914-1918 jährt sich zum 100. Mal, das offizielle Österreich misst dem Ereignis wenig Bedeutung bei.


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Wien. Mit dem Australier Claude Stanley Choules starb am 5. Mai 2011 der wahrscheinlich letzte Veteran des Ersten Weltkriegs. Niemand, der damals an Kampfhandlungen teilgenommen hat, ist noch am Leben und kaum mehr jemand, der die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" bewusst miterlebt hat. Trotzdem gibt es in diesem Jahr nur ein Thema: den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Ein großes, weltweites Gedenkjahr hat gerade begonnen. Doch wie und wessen wird eigentlich gedacht?

In Frankreich und Großbritannien ist der "Große Krieg", wie er dort heißt, fest in der Erinnerungskultur verankert. In Österreich zählt der Erste Weltkrieg "nicht zu den zentralen Gedächtnisorten", wie Heidemarie Uhl von der Akademie der Wissenschaften in einem "Grundlagenpapier" österreichischer Wissenschafter zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs schreibt. "Das Gründungsnarrativ setzt 1945/1955 ein, 1918 bildet nur eine Hintergrundfolie." Daher sei es interessant, wie gerade in den Medien versucht werde, einen Bezug zu heute herzustellen, sagt Uhl zur "Wiener Zeitung".

"Keine Aktualität"

"Die Frage ist: Wie findet man im Ersten Weltkrieg etwas, das uns etwas angeht?" Ein Thema, das laut Uhl noch Aktualität besitzt, ist der Umgang mit Kriegstreibern und Kriegsverbrechern. So wird etwa in Graz diskutiert, ob es noch zeitgemäß ist, eine Straße nach Franz Conrad von Hötzendorf - als Generalstabschef der k.u.k. Armee für Kriegsverbrechen verantwortlich - zu benennen. "Auch Massensterben und Hurrapatriotismus sind heute noch durchaus ein Thema." In mehreren Artikeln war zuletzt von auffallenden Parallelen zwischen 1914 und heute zu lesen: eine globalisierte Welt mit engen politischen und wirtschaftlichen Verbindungen. Derartige Versuche, Ähnlichkeiten zu finden, hält Uhl für "konstruiert. Man kann alles mit allem vergleichen".

Doch wie geht Österreich mit der Zeit von 1914 bis 1918 um? Wenn überhaupt, dann sei das Verhältnis der Alpenrepublik vor allem zum Jahr 1918 "ambivalent": Einerseits ging das Habsburgerreich unter - auf das man sich als Kulturnation gerne beruft -, andererseits wurde die Republik ausgerufen. Letztlich sei der Erste Weltkrieg aber "ein abgeschlossenes historisches Kapitel", zu dem - im Gegensatz etwa zum Zweiten Weltkrieg - der heutigen Generation der direkte Zugang fehle.

Auch Wolfgang Maderthaner, Direktor des Österreichischen Staatsarchivs, räumt ein, dass das Gedenken "viel schwieriger ist als beim Zweiten Weltkrieg, wo es um ein singuläres Massenverbrechen geht. Aber man wird den Zweiten nicht ohne den Ersten Weltkrieg verstehen." Aus der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" würden sich viele Ebenen des Zweiten Weltkriegs ableiten - "und das gibt genügend Stoff her".

Wie also gedenkt Österreich? "Das offizielle Österreich gedenkt eigentlich nicht", sagt Maderthaner, der für das Bundeskanzleramt die Aktivitäten rund um das Weltkriegsjubiläum koordiniert. Formelle Staatsakte sind - zumindest derzeit - also noch nicht geplant. Ganz untätig sind die Ministerien aber nicht, schließlich soll es das erste gesamteuropäische Gedenken werden. Das Hauptaugenmerk des Bundeskanzleramtes liegt etwa auf dem Themenkomplex "Krieg und Medien". Dazu wird es ab 2. Juni im Wiener Palais Porcia eine Ausstellung über das Kriegspressequartier unter dem Titel "Extraausgabe" geben.

Experten-Tagung

Auch das Außenministerium hat einiges vor: So organisiert die Kulturabteilung Wanderausstellungen und am 28. Juni, dem Tag des kriegsauslösenden Attentats auf Thronfolger Franz-Ferdinand, ein Konzert der Wiener Philharmoniker in Sarajevo. Dort wird es auch eine wissenschaftliche Tagung zu dem Thema geben. Ein ganzes Festival mit Konzerten und Diskussionen zu Österreich 1914 bietet schon Ende Februar, die Carnegie Hall in New York. Weitere Veranstaltungen hat das Außenministerium in Belgrad und Brüssel geplant, wobei der Fokus nicht auf dem Kriegsgedenken, sondern auf dem europäischen Friedensmodell liegen soll.

Analog und digital widmet sich die Nationalbibliothek dem Thema. Ab 13. März wird im Prunksaal unter dem Titel "An meine Völker" erstmals die berühmte Kriegssammlung der ehemaligen Hofbibliothek präsentiert. Ab April werden zudem im Internet rund 75.000 digitalisierte Objekte aus den verschiedenen Sammlungen der Nationalbibliothek abrufbar sein, etwa Plakate, Kinderzeichnungen, Flugblätter oder Fotografien. Zudem sind schon jetzt zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften aus den Jahren 1914 bis 1918 digital abrufbar.

Kaiserseligkeit

Der Zeithistoriker Siegfried Mattl vom Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft begrüßt zwar diese ganzen Bemühungen, sieht dem Weltkriegsgedenken aber mit Skepsis entgegen. Wenn sich Österreich mit dem Ersten Weltkrieg befasse, dann "neigt es zu Nostalgie". Überhaupt hätte sich Mattl eine viel stärkere Internationalisierung des Gedenkens gewünscht - nicht nur auf europäischer Ebene. "Mich würde es zum Beispiel interessieren, wie afrikanische Historiker die Rolle der europäischen Kolonialtruppen einordnen", sagt Mattl. Gerade für die früheren Kolonien sei der Erste Weltkrieg - als "Zenit des Imperialismus" - von großer Bedeutung: "In Österreich weiß niemand, welchen Stellenwert zum Beispiel Gallipoli für Australien hat."

Hass auf Habsburg

In den ehemaligen k.u.k. Kronländern wird auf höchst unterschiedliche Weise des Ereignisses gedacht. Für Tschechien etwa ist mit dem Zerfall des maroden Habsburger-Reiches 1918 die eigene staatliche Unabhängigkeit verbunden - ein freudiges Ereignis also. Was in Österreich als totaler Zusammenbruch erlebt wurde, bedeutete für Prag das Ende einer ungeliebten Herrschaft und der Auftakt zu einer kurzen, aber umso blühenderen demokratischen Ära. In der Tat beendete erst der Einmarsch der Nazis zunächst 1938 in das Sudetenland, dann 1939 in Prag eine Zeit, an die sich die meisten Tschechen mit einem gewissen Stolz erinnern.

In den Jahrzehnten davor versuchte man mit typisch tschechischem Humor, mit dem "alten Prochazka", dem "Spaziergänger", wie Kaiser Franz Josef abschätzig genannt wurde, fertigzuwerden. Das katholische Kaiserhaus stand aus tschechischer Perspektive über Jahrhunderte auf der Gegnerseite - bitter war, dass man im Ersten Weltkrieg Seite an Seite kämpfen musste. Die tief empfundene tschechische Habsburger-Antipathie kommt in Jaroslav Haseks Meisterwerk "Schwejk" deutlich zum Ausdruck: Etwa wenn Schwejks Stammwirt das Porträt des Kaisers deshalb von der Wand nimmt, weil angeblich allzu viele Fliegen darauf ihre Notdurft verrichtet hätten. Der Roman selbst schildert die Borniertheit der altösterreichischen Offiziersgesellschaft und Schwejks listige Sabotageakte, die sich hinter dem Mantel der Einfalt verbergen.

In der tschechischen Botschaft in Wien wird jedenfalls seit geraumer Zeit an einem Plan gearbeitet, wie das 100-Jahr-Gedenken begangen werden wird. Wie die "Wiener Zeitung" erfuhr, soll es in Wien eine Ausstellung über die sogenannte "Legion 100" geben. Damit werden nicht die tschechischen Soldaten gewürdigt, die für Kaiser und Vaterland in die Schlacht zogen, sondern die, die mit Italienern und Briten gegen Österreich-Ungarn kämpften. "Diese haben für die Tschechoslowakei und die heutige Tschechische Republik eine größere Bedeutung", so tschechische Diplomaten.

In Prag selbst, wo Kaiser Franz-Josef in Gestalt eines miesepetrigen kleinen Gnoms in Wachs gegossen wurde, soll es im historischen Museum eine Ausstellung zum Ersten Weltkrieg geben. Eröffnungstermin ist bezeichnender Weise der Zeitpunkt der Kapitulation der Mittelmächte im Oktober und November.

Nach dem EU-Beitritt 2004 hat sich nach Ansicht des Brünner Historikers Jiri Pernes in unserem nördlichen Nachbarland allerdings auch der Blick auf die Habsburger zumindest ein wenig geändert: Die Herrscherfamilie werde mittlerweile nicht mehr als die wahrgenommen, "die prinzipiell alles falsch" gemacht hätte. "Man ist zu einem differenzierenden Blick fähig", glaubt Pernes.

Anders sieht es in Ungarn aus. Das ehemalig privilegierte Königreich hat die Niederlage 1918 als extrem schmerzhaft empfunden - und sich, anders als es etwa der Fall in Österreich ist, mental bis heute vom folgenden Friedensschluss nicht ganz erholt. Das Jahr 1914 rührt an einer schmerzhaften Wunde - von Kritikern auch als Phantomschmerz bezeichnet. Denn im Friedensvertrag von Trianon wurde 1920 festgelegt, dass Ungarn einen Großteil seines Territoriums und seiner Bevölkerung verliert. Der Friedensschluss wird heute noch als nationale Tragödie wahrgenommen, Streitigkeiten mit den Nachbarstaaten Slowakei und Rumänien waren noch vor einigen Jahren an der Tagesordnung und sind erst zuletzt in den Hintergrund getreten. Die ungarischen Nachbarn fühlten sich latent bevormundet, während Budapest die Benachteiligung der ungarischen Minderheit anprangerte.

Die Regierung Viktor Orban macht sich jedenfalls seit dem Frühjahr 2013 Gedanken, wie man das historische Datum entsprechend feiern könnte. Unter dem Vorsitz von Vizepremier Tibor Navracsics wurde ein eigenes Gedenk-Komitee gebildet. Der Blick auf die k.u.k. Monarchie ist, wenig überraschend, wohlwollend, stellenweise schimmert Wehmut durch. So soll laut Andras Iszak von der ungarischen Botschaft "der Opfer und der Helden" gedacht werden. Budapest habe rund zwei Millionen Euro für Projekte wie Historikerkonferenzen bereitgestellt. Die Botschaft in Wien plant eine ungarisch-österreichische Geschichtslehrer-Konferenz sowie Ausstellungen mit dem Titel "K. und K. - Kunst und Krieg 1914-1918" und "Musen an der Front".

Handschlag

Wirklich große Gedenkveranstaltungen wird es 2014 in Frankreich und Deutschland geben - den beiden Hauptgegnern des Kriegs. Allein vor Verdun forderte "La Grand Guerre" über eine Million Tote. Kranzniederlegungen, Konzerte und Ausstellungen sind aber auch in Ländern wie Neuseeland und Australien geplant. Auf dem politischen Kalender stehen hochkarätig besetzte Gipfeltreffen. Die Queen will alle Staats- und Regierungschefs des Commonwealth in Glasgow empfangen. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck wird mit Frankreichs François Hollande am 3. August der Toten des Hartmannsweiler Kopfes gedenken - einer einstmals schwer umkämpften Bergkuppe im Elsass. Gauck wird auch mit 50 anderen Staatschefs an einem Treffen teilnehmen, das der belgische König
Philippe in der Festung von
Lüttich veranstalten wird. Paris und Berlin wollen dabei das
völkerverbindende Moment der europäischen Einigung nach 1945 in den Vordergrund stellen: "Das Absolutsetzen des Nationalen" habe in den Jahren nach 1918 niemandem Glück gebracht, wird Gauck zitiert. Im Mittelpunkt steht hier der Gedanke der Versöhnung.

Im notorisch EU-kritischen Großbritannien wird das anders gesehen: Hier soll der Jahrestag auch als große Siegesfeier begangen werden. Premier David Cameron stellt sogar ausreichend Mittel zur Verfügung, damit alle Kinder aus staatlichen Schulen die Möglichkeit erhalten, die historischen Schlachtfelder mit eigenen Augen zu sehen.

Der Weg in den Ersten Weltkrieg

1871 wird das Deutsche Kaiserreich proklamiert.

1873:Das Dreikaiserabkommen zwischen Deutschland, Österreich und Russland wird geschlossen. Deutschlands Reichskanzler Otto von Bismarck will damit eine Annäherung Russlands an Frankreich unterbinden.

1875 bis 1878: Balkankrise, Aufstände gegen die osmanische Herrschaft. Auf dem Berliner Kongress wird die Unabhängigkeit von Rumänien, Serbien und Montenegro beschlossen, das Fürstentum Bulgarien erhält weitgehende Autonomie.

1878: Österreich besetzt Bosnien und Herzegowina, annektiert das Gebiet 1908.

1879 schließen Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich den Zweibund. Dieser sah vor, dass bei einem Angriff Russlands auf einen Vertragspartner der andere mit gesamter Streitmacht zur Hilfe kommen solle. Das Verhältnis zwischen Österreich-Ungarn und Russland war aufgrund der Krisen auf dem Balkan und des Panslawismus der sich an Russland orientierenden slawischen Bewohner Österreich-Ungarns gespannt.

1882 wird der Zweibund um Italien zum Dreibund erweitert. Ein Jahr später trat Rumänien dem Dreibund bei.

1894/95 Erster Japanisch-Chinesischer Krieg. Japan erklärt China wegen Streitigkeiten um den politischen Status Koreas den Krieg. Niederlage Chinas.

1898: Der Spanisch-Amerikanische Krieg endet mit der Besetzung Kubas, Puerto Ricos, Guams und der Philippinen durch die Vereinigten Staaten und für Spanien mit dem Verlust seiner
letzten bedeutsamen kolonialen Besitzungen.

1902 nähert sich Italien durch einen geheimen Nichtangriffsvertrag mit Frankreich an die Westmächte an.

1904 schließen Großbritannien und Frankreich die Entente cordiale. Sie regelte die Einflussgebiete beider Großmächte in Afrika.

1904/05 Russisch-Japanischer Krieg. Erstmals in der neueren Geschichte schlägt ein asiatisches Land eine europäische Großmacht vernichtend. Der Krieg gilt als Vorläufer des Ersten Weltkriegs, zahlreiche militärtechnische Neuerungen wie Grabenkrieg mit Maschinengewehrstellungen wurden eingeführt.

1907 wird die Entente cordiale um Russland zur Triple Entente erweitert.

1912: Nach dem Ersten Balkankrieg verzichtet das Osmanische Reich auf die europäischen Gebiete. Durch die Schaffung Albaniens verhindert Österreich-Ungarn, dass Serbien einen Zugang zur Adria erhält.

1913: Zweiter Balkankrieg. Große Gebietsverluste Bulgariens an Griechenland, Serbien und Rumänien.

28.6.1914:Attentat von Sarajevo.