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Das große Versagen

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Die Tabuisierung der Neutralität ist nicht vom Himmel gefallen. Die Politik hatte willige Verbündete.


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Man kann die Sache drehen und wenden, wie man will, aber eine deutliche Mehrheit der Wahlberechtigten in Österreich unterstützt die Neutralität und lehnt einen Beitritt zur Nato ab. Russlands Angriffskrieg hat diese Überzeugungen nur noch weiter verfestigt. Je nach Umfrage und Fragestellung pendelt die Zustimmung zur Neutralität zwischen 80 und 90 Prozent. Anders formuliert: Ein Nato-Beitritt, wie ihn nun die bisher neutralen Länder Schweden und Finnland im Eilverfahren vollziehen, stößt in Österreich auf die entschiedene Ablehnung einer überwältigend großen Mehrheit. Das erklärt, warum sich die relevanten Parteien jeder sachlichen Debatte über Sinn und Zweck der Neutralität für die Sicherheit der Republik so hartnäckig verweigern.

Mit diesem Njet will sich eine Initiative diverser Experten, Politiker und Prominenter, die auf eine substanzielle Debatte über eine seriöse Sicherheitspolitik pochen, nun nicht länger abfinden. Aber auch dieser Appell wird eher früher als später verhallen, und zwar, obwohl gehört, weitgehend folgenlos. Der Grund liegt in der fast schon religiösen Verehrung der Neutralität, die in der politischen Praxis zu einer Aura der Unantastbarkeit geführt und sie gegen jede Kritik immunisiert hat.

Diese Tabuisierung eines sicherheitspolitischen Instruments, das ja eigentlich Mittel zum Zweck sein sollte, ist nicht vom Himmel gefallen. Spätestens nach dem Ende des Kalten Krieges wäre eine nüchterne Analyse der sicherheitspolitischen Situation der Republik und ihrer konkreten politischen Ausgestaltung notwendig gewesen. Dem hat sich jedoch nicht nur die Politik, sondern die gesamte intellektuelle Elite verweigert, wir (Qualitäts-)Medien inklusive. Es ist zu billig, für dieses Versagen einfach nur die Politik in Haftung zu nehmen, dazu gehörten schon mehr.

Die verbreitete Unlust, über komplizierte, aber relevante Themen kontrovers, aber dennoch zur Sache zu diskutieren, ist ein Armutszeugnis für die geistige Verfasstheit des Landes. Wer will es den Menschen vorwerfen, dass sie in der Neutralität den Garanten für die immerbleibende Sicherheit des Landes sehen, wenn sich die Eliten des Landes mit der gleichen Oberflächlichkeit mit dem Thema beschäftigen?

Niemand plädiert dafür, dass Österreich es nun mit der gleichen Entschlossenheit Schweden und Finnland gleichtun und in die Nato streben soll. Aber eine ernsthafte Debatte über die Neutralität und Österreichs Beitrag zu einer kollektiven europäischen Sicherheitspolitik angesichts der geopolitischen Realitäten ist hoch an der Zeit. Ganz ohne Tabus und inhaltlose Phrasendrescherei.