Der Weg der Türkei in die Europäische Union erweist sich als mühsam, wie das bisher bei keinem Kandidatenland in der Geschichte der Union der Fall war. Doch die Regierung in Ankara ist zielstrebig und möchte bis Jahresende von der EU ein Datum zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen genannt bekommen. Für heute, Freitag, hat Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer alle Parlamentsparteien zu einem "EU-Gipfel" geladen. Denn Regierungschef Bülent Ecevit ist schwerkrank. Er ist genau seit drei Jahren im Amt und kämpft inzwischen auch ums politische Überleben. Am Wochenende gibt es zudem Gespräche zu Zypern.
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"Natürlich Europa!" Fragt man Türken in ihrem Land danach, ob sie sich der arabischen Welt oder dem europäischen Kontinent eher zugehörig fühlen, fällt die Antwort eindeutig aus. Die neueste Mode, die am noblen Atatürk-Boulevard und in den modernen Shopping-Centers in Ankara angeboten wird, kann sich aber nur eine wohlsituierte Minderheit leisten. Ankara (vier Mill. Einwohner) hat sich zu einer pulsierenden Stadt gemausert. Die heimliche Hauptstadt ist freilich Istanbul (16 Mill. Einwohner). In der Hauptstadt ist nur eine Minderzahl von Frauen zu sehen, die den moslemischen Tschador tragen. Die Banken wechseln gerne schwere Euro gegen türkische Lira ein - ein Euro ist unglaubliche eineinhalb Millionen Lire wert. Doch gefragt, ob sie denn glauben, dass ihr Land der EU beitreten werde, antworten die Bankangestellten: "Ich verstehe kein Englisch." Mehr können oder wollen sie nicht sagen.
Kein Tschador, kein Englisch
Intellektuelle und Meinungsmacher, Journalisten wie Akademiker, sind hingegen davon überzeugt: "Die Türkei wird sicher der Europäischen Union beitreten." Mag sein, dass hier der Wunsch der Vater des Gedanken ist. Türkische Umfragen weisen einhellig eine überragende Mehrheit von 70 bis 80 Prozent für eine EU-Mitgliedschaft aus. Dabei hat das Land am Bosporus mehr als 30 Prozent Analphabeten; es sind in erster Linie Frauen. Hinzu kommen drei offene Fragen: die Todesstrafe und was mit Ex-PKK-Chef Öcalan passieren soll sowie dass der Unterricht und TV-Programme in Kurdisch ermöglicht werden. "Die Kurden in der Türkei werden so behandelt wie hier die Ausländer", meint der türkische Taxi-Fahrer in Wien lapidar. Er wurde in Österreich geboren, spricht perfekt Deutsch. Dass er die türkische Tageszeitung liest ist für ihn selbstverständlich. Er glaubt an den EU-Beitritt der Türkei. "Aber", schränkt er ein, "ich fürchte, dass sich die EU zu lange Zeit lässt und die Türkei in 20 Jahren nicht mehr beitreten will".
In der Tat war der Weg nach Europa für die Türkei bisher so steinig wie für kein anderes Land: Bereits 1987 - also noch vor Österreich - wurde die EU-Mitgliedschaft beantragt. 1989 lehnte die EU das Gesuch ab. Bis schließlich zehn Jahre später, im Dezember 1999 beim Gipfel in Helsinki, die Union der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten zugestanden hat, ohne mit dem Land konkrete Beitrittsverhandlungen über die Übernahme des Gemeinschaftsrechts ("acquis communautaire") aufzunehmen. Seit genau einem halben Jahrhundert ist das Land, in dem Euphrat und Tigris entspringen, hingegen Mitglied der NATO.
Erster Versuch 1987
Uneins ist die türkische Politik darüber, wie sie mit der heißen Kartoffel des zum Tode verurteilten ehemaligen Kurden-Anführers Öcalan umgehen soll. Die Nationalistische Bewegungspartei (MHP), die unter der Führung von Bülent Ecevits Sozialdemokraten (DSP) und mit der Mutterlandspartei (ANAP) seit drei Jahren eine Koalitionsregierung bildet, möchte Öcalans Todesurteil am liebsten vollstreckt sehen. Öcalan würde damit zum Kurden-Märtyrer aufsteigen. Dagegen stellt sich Premier Ecevit, weil er internationalen Schaden für das Land fürchtet. Und offenbar lehnt auch die militärische Führung die Vollstreckung des Urteils ab; sie fürchtet sich vor einem erneuten Aufflammen von Kämpfen im Kurdengebiet. Und die Meinung des Sicherheitsrates, gebildet von Militär und Regierung, ist entscheidend: Das Militär verfügt in der Türkei nach wie vor über ein beispielloses Mitspracherecht in der Politik.
Doch nicht nur die ungelösten, politisch heiklen Fragen sind riesige Stolpersteine für die Türkei, um sich der EU anzunähern. Erst am Mittwoch wurde sie von den Vereinten Nationen mit 18 anderen Ländern (darunter auch Griechenland, Bosnien, Russland und arabische Staaten) wegen Menschenhandels verurteilt; Tausende, vor allem Frauen und Kinder, würden zu Prostitution und Ausbeutungsjobs gezwungen, so die UNO.
Militärische Führung und Wirtschaftsdilemma
Die rund 66 Millionen Türken (Prognosen bis zum Jahr 2020 gehen von 100 Mill. Einwohnern aus) erleben derzeit, mit Beginn in den 1990-er Jahren, die schlimmste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Wirtschaftskrise im vergangenen Jahr tat das Übrige. Zwischen 1990 und 1998 betrug die Inflationsrate im Schnitt 80 Prozent, derzeit liegt sie bei etwa 60 Prozent. Ein Regierungsbeamter verdient monatlich ca. 200 US-Dollar. Von der "Wiener Zeitung" auf das Problem der Korruption angesprochen, meint ein Mitarbeiter des Tourismusministeriums in Ankara: "Korruption? Was meinen Sie damit?"
Die Erkrankung des 77-jährigen Premiers konnte da ungünstiger nicht kommen. War die Koalition schon bisher zerstritten, werden nun auch Rufe nach Ecevits Rücktritt laut. Ein Machtvakuum - das Kabinett ist seit einem Monat nicht mehr zusammen getreten - könnte die notwendigen Wirtschaftsreformen untergraben. Zudem gibt es Befürchtungen, dass vorgezogene Neuwahlen die vom Internationalen Währungsfonds zugesagten 16 Mrd. Dollar gefährden könnten.
Premier Ecevit dementiert, amtsunfähig zu sein, und hat bis zuletzt seine Teilnahme am türkischen "EU-Gipfel" zugesagt. Sollten Regierung und Parlament dringende Reformen bis zur Sommerpause nicht umsetzen, könnte sich das selbst gesteckte Ziel, noch vor Jahresende von der EU zu Beitrittsgesprächen eingeladen zu werden, als Illusion erweisen.