Zum Hauptinhalt springen

"Das Hauptproblem war Erdogan"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Zum zweiten Mal binnen fünf Monaten wählt die Türkei. Die Stimmung im Land ist angeheizt, es dürfte erneut ein Ergebnis geben, das Präsident Erdogan missfällt. Laut dem Polit-Analysten Ekrem Güzeldere muss die AKP nun Zugeständnisse machen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wiener Zeitung":In Europa setzt man große Hoffnungen in die Türkei. Das Land wird als Schlüsselstaat in der Flüchtlingskrise bezeichnet. Welche Rolle hat das Thema im Wahlkampf gespielt?Ekrem Eddy Güzeldere: Die Flüchtlinge haben auch hier im Wahlkampf eine Rolle gespielt, vor allem deshalb, weil die Opposition der Regierung vorwirft, dass der massive Zustrom in die Türkei das Resultat einer verfehlten Syrien-Politik ist. Der Besuch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel in Ankara und die Anstrengungen der EU, die Türkei mit Geld dazuzubringen, die Flüchtlinge im Land zu halten, haben hingegen nur einen geringen Einfluss auf die Wahlen oder die Stimmung im Land gehabt. Das wurde eher als politisches Manöver seitens Europas angesehen.

Es macht den Eindruck, als hätte es Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in den vergangenen Wochen sichtlich genossen, von Europa hofiert zu werden. Verfolgt man in der Türkei noch eine europäische Perspektive? Oder geht es da einfach darum, dass man von europäischen Politikern nun nicht mehr so einfach links liegen gelassen werden kann?

Teile der Opposition wollen, dass sich die Türkei wieder an Europa annähert, und diese Gruppe würde daher auch gerne verstärkte Anstrengungen in den EU-Verhandlungen sehen. Doch auch Erdogan und die AKP sind in einer Situation, in der sich das Verhältnis zu den nahöstlichen Nachbarn verschlechtert hat. Nicht nur dass es keinen Botschafter mehr in Ägypten, Israel und Syrien gibt, auch das Verhältnis mit dem Irak und dem Iran ist angespannt. Zuletzt haben sich auch noch die Beziehungen zu Russland verschlechtert. Da nicht mehr so viele Freunde in der Nachbarschaft verblieben sind, ist Europa auch wieder wichtiger geworden.

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass das Ergebnis am Sonntag genauso aussieht wie jenes vom 7. Juni. Damals hatte die AKP die absolute Mehrheit verloren und die prokurdische HDP ist ins Parlament eingezogen. Eine Regierung hat die AKP jedoch nicht zustande gebracht. Wie soll sich dieses Dilemma nun auflösen lassen?

Es ist meiner Meinung nach ziemlich unwahrscheinlich, dass es noch einmal eine Wahlwiederholung gibt. Denn auch die AKP kann ihren Wählern nicht verkaufen, dass man auf keinen Fall eine Koalition bilden kann und man so lange wählt, bis eine Partei die absolute Mehrheit hat. Ziemlich wahrscheinlich wird es daher eine Koalition mit Beteiligung der AKP als stärkster Partei geben. Auch wenn rechnerisch und politisch eine Zusammenarbeit mit der nationalistischen MHP möglich wäre, würde eine Koalition mit der kemalistischen CHP politisch am meisten Sinn machen.

Wo sind die größten Gräbern, die es zwischen AKP und CHP zu überwinden gilt?

Zwischen den beiden Parteien und den beiden Vorsitzenden gibt es meiner Einschätzung nach gar keine größeren Probleme. Das Hauptproblem bei den vergangenen Verhandlungen war, dass Erdogan keine Koalition wollte, da jede Koalition bedeuten würde, dass er das von ihm angestrebte Präsidialsystem nicht umsetzen kann. Und Erdogan kann dann auch nicht so agieren, als wäre er zugleich Staatspräsident, Ministerpräsident und Parteivorsitzender, weil der Koalitionspartner wohl darauf drängen würde, dass er sich an die Befugnisse hält, die er laut Verfassung hat. Sollten die Wahlen am Sonntag wieder mit einem ähnlichen Ergebnis enden, muss sich Erdogan wohl auf die Zunge beißen und die Koalitionsgespräche einfach zulassen.

Erdogan hat sehr viel in die Waagschale geworfen, um seine AKP wieder auf die Siegerstraße zurückzuführen. Der Friedensprozess mit den Kurden wurde gekippt, der PKK de facto der Krieg erklärt. Doch die Strategie scheint nicht aufzugehen. Hat sich Erdogan da verkalkuliert?

Ich denke, die AKP und Erdogan hatten zwei Strategien. Zum einen, die pro-kurdische, linke HDP zu kriminalisieren und die Partei unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken. Zum Zweiten hat man versucht, die nationalistisch-rassistische MHP zu schwächen. Da hat man beispielsweise einen bekannten Politiker abgeworben, der Minister in der Übergangsregierung wurde. Beide Strategien scheinen aber nicht aufzugehen. Die Wähler sind mittlerweile so fest in ihren Wahlentscheidungen, dass nur noch ganz kleine Veränderungen möglich sind.

Aber ist es denn realistisch, dass Erdogan so einfach seinen großen Traum aufgibt, die Türkei in ein Präsidialsystem mit einem starken Staatsoberhaupt umzuwandeln?

Seit der vergangenen Wahl am 7. Juni sind rund 700 Menschen gestorben, es sind teilweise kriegsähnliche Situationen im Land zu sehen, in kurdischen Städten gab es Ausgangssperren von mehr als einer Woche. Erdogan versucht alles, um an der Macht zu bleiben, aber irgendwann ist wohl ein Maß erreicht, an dem auch er nicht mehr weiter kann. Das gleiche Spiel nun noch einmal zu spielen und in fünf Monaten erneut wählen zu lassen, ist auch den AKP-Wählern sehr schwer zu verkaufen. Denn unter dieser Instabilität leiden natürlich auch die Wirtschaft und der Tourismus, die Investitionsfreude sinkt. Viele in der AKP-Stammwählerschaft sind in diesem Bereich aktiv, und die wollen Stabilität. Und wenn es diese Stabilität nicht mit einer absoluten Mehrheit gibt, dann wenigsten in einer Koalitionsregierung.

Die AKP hat ja in der Vergangenheit auch davon stark profitiert, dass sie für viele zumindest ein Stück weit den sozialen Aufstieg ermöglicht hat. Doch das scheint nun auch zu bröckeln.

Das Wirtschaftswachstum ist nicht mehr so gut wie noch vor ein paar Jahren. Doch verglichen mit den Nachbarländern ist die Situation noch immer gut. Sollte sich das deutlich verschlechtern, dann würde die AKP wohl viel stärker an Stimmen verlieren als jetzt durch politische Themen wie Pressefreiheit oder den Druck auf die Opposition. Ich war gerade in zwei Hochburgen der AKP und die zwei Worte, die dort ständig fallen, sind "Stabilität" und "Sicherheit". Das wollen die Händler und Wirtschaftstreibenden dort und sie wollen es möglich schnell.

Die pro-kurdische HDP ist von der AKP in diesem Wahlkampf zum Staatsfeind gemacht worden. Inwieweit hat ihr das geschadet?

So gut wie gar nicht. Die Wähler der HDP sind ein ziemlicher fester Block. Denn zum einen sind das die Kurden, die sowieso schon seit Jahrzehnten in diese Richtung denken, zum anderen sind das liberale Türken, die in der Partei eine Alternative sehen. Und diese Menschen werden durch die Angriffe Erdogans jetzt auch nicht davon abgehalten, die HDP zu wählen. Vielleicht verliert die Partei ein Prozent, aber sie wird mit großer Wahrscheinlichkeit wieder über die Zehn-Prozent-Hürde kommen.

Ekrem Eddy Güzeldere lebt seit 2005 in Istanbul und ist seit 2013 selbständiger Politanalyst. Davor war der gebürtige Deutsche viele Jahre lang für Thinktanks wie die Heinrich-Böll-Stiftung und die Europäische Stabilitätsinitiative tätig.